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Hedwig Lachmann • * 1865 Stolp • † 1918 Krumbach

Unterwegs

Ich wandre in der grossen Stadt. Ein trüber

Herbstnebelschleier flattert um die Zinnen,

Das Tagwerk schwirrt und braust vor meinen Sinnen,

Und tausend Menschen gehen an mir vorüber.

 

Ich kenn sie nicht. Wer sind die vielen? Tragen

Sie in der Brust ein Los wie meins? Und blutet

Ihr Herz vielleicht, von mir so unvermutet,

Als Ihnen fremd ist meines Herzens Schlagen?

 

Der Nebel tropft. Wir alle wandern, wandern.

Von dir zu mir erhellt kein Blitz die Tiefen.

Und wenn wir uns das Wort entgegenriefen –

Es stirbt im Wind und keiner weiss vom andern.

Hedwig Lachmann. Die Dichterin und Übersetzerin von Edgar Allen Poe, Sándor Petöfi und Oscar Wilde wird 1865 in Stolp geboren, ihre Ausbildung zur Sprachlehrerin absolviert sie im Alter von 15 Jahren in Augsburg. Jahres des Reisens folgen: Hedwig Lachmann arbeitet und lebt in Berlin, Budapest und Dresden, einige Jahre verbringt sie in England. 1899 lernt sie Gustav Landauer kennen, der noch verheiratet ist, eine Annäherung in Briefen beginnt. Auftakt für den lebenslangen Austausch zweier Menschen, geprägt und verbunden von gemeinsamer Spracharbeit und der Idee, Gesellschaft im neuen Jahrhundert aktiv zu gestalten. Die Revolution von 1918 erlebt Hedwig Lachmann nicht mehr, sie stirbt überraschend schnell an einer Lungenentzüngung am 21.2.1918, den Verlust seiner Frau hält Gustav Landauer in der Schrift »Wie Hedwig Lachmann starb« fest. Gustav Landauer selbst folgt wenig später dem Aufruf Kurt Eisners, wird treibende Kraft in der November Revolution 1918, im Zuge der Niederschlagung wird er inhaftiert. Nach Misshandlung und Folterung wird Gustav Landauer am 2.5.1919 erschossen.

(»Unterwegs« aus: Liebe & Revolution. Hedwig Lachmann und Gustav Landauer zwischen Kunst und Politik. Literarische Gesellschaft Karlsruhe. 2018)

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