Die Erfindung des Ostens
Der Born talentierter georgischer Schriftsteller_innen scheint zu Beginn des 21. Jahrhundert unerschöpflich zu sein, wenn auch die 1973 in Gori geborene Irma Tavelidse noch keinen herausragenden Platz auf dem belletristisch reich gesegneten Markt in der südkaukasischen Republik ein. Eine Erzählung aus ihrer ersten Sammlung von Kurzgeschichten mit dem Titel „Autobiographie auf Französisch“ hatte ihr 2009 in Tiflis einen Publikumspreis eingebracht. Die vorliegende Sammlung mit sechs Geschichten ist ihre erste deutschsprachige Buch-Veröffentlichung in dem anerkannten Berliner Verlag, der sich seit mehr als zehn Jahren um die osteuropäischen Literaturmärkte kümmert. Nicht weniger reich an Talenten ist auch der Markt an gut ausgebildeten Übersetzer_innen aus dem Georgischen besetzt. Im Fall von Iunona Guruli, die die vorliegenden sechs Erzählungen über Frauen und Männern ins Deutsche übertragen hat, eine in Berlin lebende Schriftstellerin mit doppelter beruflicher Ambition, sind es zwei Buchveröffentlichungen: „Die Diagnose“, 2016 in Tiflis erschienen, und der deutschsprachige Sammelband mit Erzählungen aus dem Jahr 2018. Beste Voraussetzungen also für eine professionelle Zusammenarbeit.
In der Tat überrascht bereits die Titelerzählung „Die Erfindung des Ostens“ in zweierlei Hinsicht. Ein Zitat der georgischen Schriftstellerin Diana Amfimiadi gleich zu Beginn des Textes, gleichsam als Leitmotiv „Ich muss lernen, nicht am Brot, sondern am Goldbarren zu sparen“ , und die stellenweise verwirrenden perspektivischen Wechsel eines Er-Erzählers. Er probiert aus einer männlich verunsicherten Perspektive verschiedene geschlechtliche Konstellationen aus, leider ohne zufriedenstellenden Erfolg. Dann aber ist es eine aus dem Irak stammende Halima, die ihn augenblicklich bezirzt und ihm die letzte Kraft raubt. Sie holt seine kosmische Sehnsucht nach Lust wieder in reale irdische Dimensionen. Doch das männlich orientierte Wunschmodell, das von wachsender Lust geprägt ist, erfüllt sich nicht aus der Sicht von Halima. Seine lustvolle Erzählung sei langweilig, bestätigt sie ihm. Auch der Fortgang der Handlung erweist sich zunächst als langweilig, weil die Zeit stehengeblieben ist. Dann aber wird der Er-Erzähler beim Aufwachen mit einer furchtbaren Tat konfrontiert. Halima liegt tot in der Küche und … lesen Sie doch weiter darüber, wie der Osten erfunden wurde.
Auch die letzte der sechs Erzählungen, „Drei Leben der Marie Renard“, weist eine spannende zeitliche Strukturierung und unterschiedliche räumliche Perspektiven aus. Erste Ebene: eine Buchhändlerin in einem Autobus auf dem Weg nach Tiflis; zweite Ebene: Eine „menschengroße, lebendige deutsche Puppe“, die mit ihr das Gespräch sucht; dritte Ebene: Sprechstunde bei einem sog. Reproduktionsarztes zwecks Überprüfung ihrer Gebärmutter; vierte Ebene: Szene im Buchladen; fünfte Ebene: Marie Menard im Jahr 2112, in dem Bücher, Buchreklame, Bücherübersetzungen nur noch von Computern erledigt werden. Utopien, Visionen und Realitäten gehen ineinander über, so wie in einer anderen Erzählung. In „Consecutio temporum“ ist es ein Ich-Erzähler, der sich in einem Heftroman eingerichtet und „Angst (hat), dass der Schatten der Vergangenheit mir die tägliche Ration an Gemütlichkeit aus der Hand reißen könnte.“ Und in diesem Schmöker, der noch dazu durch ein Zitat aus „Alice im Wunderland“ eingeleitet wird, geht vieles drunter und drüber. Sozusagen Gehirnakrobatik für solche Leser_innen, die die Wahrheiten des Lebens in Kopfkissenbezügen verbergen. Also, für solche, die noch etwas entdecken wollen, wie die Wahrheiten auf das reale Leben treffen oder auch umgekehrt. Eine köstlich anregende Lektüre, allen jenen zu empfehlen, die zu früh am Leben scheitern oder es immer wieder neu entdecken wollen.
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