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Kritik

Dagny Juel

Hamburg

Dagny Juel als geselliger Mittelpunkt der Berliner Bohème-Szene am Ende des 19. Jahrhundert, jüngst durch den ins Deutsche übersetzten Roman „Dagny oder ein Fest der Liebe“ von Zurab Karumidse (Weidle Verlag, 2017) wieder in das Blickfeld von Liebhabern des fin-de-siècle-Fluidums geraten, hat auch ein kleines Repertoire an literarischen Texten hinterlassen. Ihr ist die vorliegende Ausgabe gesammelter Werke gewidmet. Sie besteht aus vier Prosatexten und einem Konvolut von Gedichten und Dramen im Umfang von rund 90 Druckseiten, die Lars Brandt aus dem Norwegischen übertragen hat. In seinem anschließenden siebzig Seiten umfassenden Essay über Leben und Werk von Dagny Juel unter dem Leitbegriff ‚Kein Puppenheim’ gibt der Verfasser einen forschungsorientierten Lagebericht über eine Persönlichkeit, deren kreatives und tragisches Potential auch mehr als hundert Jahre nach ihrer Ermordung in Tiflis am 5. Juni 1901 bei weitem noch nicht ausgelotet ist. „Als zentrale Figur der Boheme“ habe sie „lemurenhafte Spuren hinterlassen“ und sei in den Erinnerungen von Edvard Munch und August Strindberg herumgegeistert. Doch außer ihren Lebensdaten und Gemälden von Edvard Munch, den bewundernden und spektakulären Anmerkungen von Zeitgenossen über ihre außergewöhnliche Erscheinung, die Begleitumstände ihres dramatischen Lebens an der Seite ihres Ehemanns, des bekannten polnischen Schriftstellers Stanisław Przybyszewski, seien die Angaben zu ihrem Schaffen „nicht auf dem neuesten Stand“. Nach der Lektüre des vorliegenden Esssays und der sorgfältigen Prüfung der übersetzten Texte aus der Feder von Dagny Juel sollte die hier nun vorliegende Diagnose sicherlich zu weiterführenden Einsichten führen.

Lars Brandts eingehende Analyse der bislang bekannt gewordenen Fakten über den Werdegang der am 8.6. 1867 in dem südostnorwegischen Ort Kongsvinger geborenen Dagny Juel beruht nicht nur auf der Lektüre norwegischer wie auch deutsch- und englischsprachiger Publikationen. Er bezieht auch dokumentarisch belegte Äußerungen von bekannten Zeitgenossen, die sich in der Bohème-Szene im Berliner Szenelokal „Zum Schwarzen Ferkel“ aufhielten, in seine wertenden Betrachtungen der ungewöhnlichen Schriftstellerin ein. Dabei konzentriert sich seine Aufmerksamkeit auf die rezeptive und literaturkritische Aufarbeitung des schmalen Konvoluts an Texten. Diese in der norwegischen Originalfassung Samlede Tekster (Gesammelte Texte) vorliegenden Schriften bilden die Grundlage für eine interpretative Begutachtung von literarischen Texten, die unter außergewöhnlich schwierigen Umständen entstanden sind und von Dagny Juel leider nur selten publiziert wurden. Andererseits engagierte sie sich für noch unbekannte Schrifsteller_innen, indem sie deren Texte ins Deutsche übersetzte und diese dann an die Redaktionen unterschiedlicher Zeitschriften schickte. Diese übersetzerische Tätigkeit übte sie neben ihren Aufgaben als Mutter von zwei Kindern an der Seite ihres skrupellosen Ehemannes aus. Dazu kamen ihre häufigen Auftritte und Alkoholexzesse im Kreise der Bohemisten, die amourösen Eskapaden „ihres“ Stanisław, die bei ihr psychische Störungen auslösten. Dennoch folgte sie ihrem Ehemann nach Polen, wo er unter fragwürdigen finanziellen Umständen, umjubelt von einer polnischen literarischen Szenerie, seine von satanistischen Weltmodellen beeinflussten dramatische, epische und lyrische Texte publizierte und zu einem wesentlicher Vertreter der „Młoda Polska“ (Junges Polen) wurde. Aus diesem Kreis junger Satanisten, so auch unter Verweis auf Dagny Juels Biograph, Tadeusz Wittlin (vgl. „Eine Klage für Dagny Juel-Przybyszewski“, Paderborn 1995), wählte Przybyszewski einen gewissen Wład Emeryk aus, der den Auftrag erhielt, mit seiner Ehefrau unter fadenscheinigen Begründungen nach Tiflis zu fahren. Dort erschoß Emeryk zunächst Dagny, dann sich selbst, nicht ohne vorher „beklemmende Briefe“ an den mitgereisten fünfjährigen Sohn Zenon zu schreiben.

Unter diesen dramatischen Begleitumständen ist ein Werk entstanden, wie Brandt zu Beginn seiner Ausführungen betont, „eine schmale, aber dichte literarische Hinterlassenschaft von originellem Gepräge. Der eigenartige Ton, den sie anschlägt – abgründig, pathetisch oder knapp – (…) hört sich so an.“ Wie dieser Ton in der literarischen Umsetzung klingt, versucht Lars Brandt nach seiner ausführlichen Schilderung der dramatischen biographischen Gegebenheiten darzulegen. Man sollte die „in ihrem Werk und Leben angelegte Ambivalenz und Problematik … nicht kleinzureden versuchen, sondern in die Betrachtung einbeziehen. Aus den Widersprüchen erst erschließt sich ihre Persönlichkeit, ebenso ihr Platz in der Literaturgeschichte an der Nahtstelle von Naturalismus, Symbolismus und Expressionismus, ihre spezielle Bedeutung – auch als Autorin, die eben nicht die gängige, realistischen Wege frauenemanzipatorischer Literatur bestritt, sondern sich für eine stilisierte, artifizielle Form entschied“. (S. 120) Dagny Juel schreckte augenscheinlich vor dem Risiko einer Publikation ihrer Werke zurück und wurde nolens volens im männlichen Kreis der literarischen Berliner Boheme zu einer mythisch verklärten Hetäre erkoren. Umso wichtiger ist es nunmehr, dass angesichts der von Lars Brandt offengelegten Ursachen für das Verschweigen des literarischen Werkes von Juel die vorliegenden Texte aus unterschiedlichen Genres kompositionell zugeordnet werden Wünschenswert wäre es deshalb, etwas über die Thematik der fünf kurzen Prosatexte zu erfahren. Auch die Zuordnung der sechzehn lyrischen Texte zu den vier kurzen Dramas wäre notwendig, weil auf diese Weise mögliche motivische Überlagerungen festgestellt werden könnten.

Rund zwanzig Jahre nach den ersten deutschsprachigen Publikationen über das Lebenswerk von Przybyszewski und den ersten norwegischen Untersuchungen zu Leben und Werk von Dagny Juel könnten nunmehr manche Schleier gelüftet werden. Umso erfreulicher ist es, das der Weidle Verlag nach der Veröffentlichung des postmodernen Romans von Zurab Karumidse „Dagny oder ein Fest der Liebe“ nunmehr einen wesentlichen Impuls für die Offenlegung des literarischen Werkes geliefert hat.

Dagny Juel
Flügel in Flammen / Gesammelte Werke
aus dem Norwegischen und mit einem Essay von Lars Brandt
Weidle Verlag
2019 · 176 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-938803-91-2

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