Ein Koffer ohne Griff - ein Lebensabend zwischen den Kulturen
Die Novelle „Gare Du Nord“ des in Algerien geborenen und seit 1993 in Frankreich lebenden Schriftstellers Abdelkader Djemai ist ein sanft-nostalgisches Werk über das Leben und Altern im Exil, über Hoffnungen und Träume einer Immigrantengeneration vor der Kulisse der Pariser Gare Du Nord.
„Ihr Leben glich einem Koffer ohne Griff“ – dieser zentrale Satz des schmalen Buches bringt das Dilemma von Bonbon, Zalamite und Bartolo auf den Punkt. Die drei alten Algerier leben inmitten des blühenden Kunterbunt der französischen Hauptstadt im „Heim der Hoffnung“. Ein Altersheim, die letzte Station ihres Lebens. Alle begehren sie Zaza, von der sie betreut werden, und alle drei verbringen ihre Tage in gemächlichem Gleichmaß. Sie schlendern durch die Stadt, sitzen auf Parkbänken, trinken ein Bier in ihrer Stammkneipe „Zum Grünen Krug“ oder verbringen den Tag in der Gare Du Nord, jenem Ort, der für sie wie ein Tor zu einer Welt ist, die sie nicht mehr betreten können. Sie müssen am Eingang verweilen, mitten im emsigen Treiben der Abfahrenden und der Ankommenden.
Auch Bonbon, Zalamite und Bartolo schmieden Reisepläne, aber sie wissen, dass es ihre letzte Reise sein wird. Sie haben einander, ihren kleinen Männerklub, aber dennoch sind sie einsam. Das Sonnenlicht glitzert in ihrem Tee, die Katze streift um ihre Beine, Zaza schenkt ihnen ein Lächeln. All die kleinen Dinge, die das Leben ausmachen, sprechen von Abschied. Der Tag wird getaktet vom Gebetsruf des Muezzins, im Grünen Krug holen sie sich Rat beim weisen Hadj, aber im Grunde wissen sie, dass er bloß ein Geschichtenerzähler ist. Der Ramadan bricht an, aber ganz so eng sehen sie all das nicht mehr. Die Erinnerungen schweben geisterhaft an ihnen vorüber. Alles geht seinen Gang – bis Bonbon noch einmal aufbrechen will: Noch einmal nach Algerien, noch einmal die Familie besuchen…
Abdelkader Djemai erzählt eine ruhige und melancholische Geschichte, eine lebenskluge Geschichte vom Dasein im Exil, vom Nebeneinander und Miteinander der Kulturen, er wirft dabei ein so ganz anderes Licht auf die zwischenmenschlichen Verhältnisse als Politik und Massenmedien mit ihrem Schlagwort von der Integration. Er erzählt von Lebensentwürfen, in denen dieser konzeptionelle Blick keine Rolle spielt, und er zelebriert auf wunderbare Weise in seiner eingängigen und dabei höchst eleganten Prosa das Sein im Jetzt, das Auskosten des Moments. Eine Umarmung, die wir spüren und gerne zurückgeben beim Lesen eines wunderbaren Buches.
Abdelkader Djemaï wurde 1948 in Oran, an der algerischen Mittelmeerküste geboren und lebt seit 1993 im Exil in Frankreich. Als Journalist arbeitete er unter anderem mit an der von Jean-Paul Sartre gegründteten Zeitschrift "Les Temps Modernes", hat zahlreiche Novellen, Theaterstücke und Romane geschrieben und wurde dafüru.a. mit dem "Amerigo-Vespucci-Preis", dem "Tropenpreis" sowie dem "Albert Camus-Entdeckerpreis" ausgezeichnet. Tatsächlich hat Abdelkader Djemaï eine große Affinität zu Albert Camus, ebenfalls algerischer Herkunft, dem er einen Essay mit dem Namen "Camus à Oran" widmete. "Gare dur Nord" ist das erste Buch, das von ihm in Deutschland erscheint. Zu verdanken haben wir diese und andere Entdeckungen der Exilliteratur dem Verleger Madjid Mohit aus Bremen, selbst iranischer Exilant, seit ihn vor 20 Jahren der Bundesgrenzschutz an der Weiterreise nach Canada hinderte und ihn zum unfreiwilligen Asylanten in Deutschland machte.
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