Das Private öffentlich machen
Geheime Gedichte - erotische Gedichte? Nicht nur, aber schon ein wesentlicher Bestandteil dieses kleinen Gedichtbandes. Er beinhaltet die drei Gedichte Auf einem winterlichen Strahl, Auf der Bühne und Sommersonnenwende. Die ersten beiden Gedichte bestehen aus jeweils sieben Strophen, das letzte Gedicht dagegen aus vierzehn. Nacktheit und Brüste sind unter anderem ein immer wiederkehrendes Thema. Wobei Nacktheit, griechisch η γύμνια (= i gýmnia), und entblößt (wie bei "entblößten Brüsten"), griechisch γυμνωμένος (= gymnoménos), zusammengehören, was im Griechischen auch durch denselben Wortstamm (gymn-) gut zum Ausdruck kommt.
Der Verfasser dieser Gedichte wäre nicht Seferis, wenn er nicht auch die griechische Mythologie bemühen würde. Bezüglich Erotik, Begehren und Sexualität stützt er sich hier auf zwei Frauen der griechischen Mythologie: Hekate, die Göttin der Magie, der Wegkreuzungen, Schwellen und Übergänge, und Pasiphaë, die "Tochter des Sonnengottes Helios und der Nymphe Perse, Göttin des Neumonds."
In der dritten Strophe des Gedichts Auf der Bühne wird eine Frau ("und du hattest an deinen Brustwarzen / zwei kleine, kirschrote Kieselsteine - / Bühnenrequisiten, ich weiß nicht.") so lange von der "ungestümen Hekate" mit einem Messer angestachelt, bis sie nicht mehr anders kann:
"Da erst riefst du:
'Soll doch kommen und mit mir schlafen, wer will,
bin ich denn nicht das Meer?'"
In der dritten Strophe des Gedichts Sommersonnenwende geht es um eine konkrete Begattung etwas anderer Art:
"das wellengetragene Mädchen [= Pasiphaë]
trägt das Fell der Kuh,
damit der junge Stier sie besteigt;"
Aus dieser Zusammenkunft ist laut griechischer Mythologie ja der Minotaurus hervorgegangen, einem Wesen mit menschlichem Körper und Stierkopf.
Eine andere Form der Vereinigung von Mann und Frau, aber mehr im übertragenen, dichterischen Sinne kann man in der sechsten Strophe des Gedichts Auf der Bühne erahnen:
"Vielleicht wollen die Sterne sprechen,
die deine ganze Nacktheit abschritten eines Nachts,
der Schwan, der Schütze, der Skorpion"
Denn zum einen handelt es sich bei dem Schwan, dem Schützen und dem Skorpion natürlich um Sternbilder, zum anderen sind es aber alles männliche Wesen, die des nachts mit ihrem Licht, mit ihrer Strahlung den nackten Körper einer Frau abscannen (so das Gedicht).
Licht, und damit Sonne und Mond (zwischen denen sich die Sterne am Firmament tummeln), ist ein weiteres wiederkehrendes Thema in den drei Gedichten. Wobei Seferis Erotik und Sonne und Mond auch gekonnt in Zusammenhang bringen kann. Die erste Strophe der Sommersonnenwende beginnt mit:
"Die größte Sonne auf der einen Seite,
auf der anderen der Neumond,
fern in der Erinnerung wie jene Brüste."
Und in der fünften Strophe:
"In der heißen Nacht
ruft die verwelkte Priesterin der Hekate
mit entblößten Brüsten oben auf dem Flachdach
einen künstlichen Vollmond an"
Wobei laut Anmerkungen es sich bei der Priesterin der Hekate um Medea handelt, die wiederum die Nichte von Pasiphaë ist. Und so schließt sich ein Kreis innerhalb der griechischen Mythologie.
In der Vorbemerkung zu den Anmerkungen in diesem Gedichtband, das sich liest wie ein Nachwort zu den Gedichten, werden die Intentionen von Seferis erhellt. Ihm ist wichtig, etwas Gültiges zu schreiben, auch wenn es nur eine Zeile oder ein Wort ist. Es geht ihm dabei nicht um Schöngeistiges, sondern dass seine ethische Haltung klar zum Ausdruck gebracht wird. Seferis: "Das Wort, das sich zusammensetzt aus viel Leben und viel Durchlittenem, aus viel zwischenmenschlicher Reibung." Bei diesen geheimen Gedichten möchte man meinen: auch viel Reibung zwischen den Geschlechtern.
Ferner heißt es dort zu diesem Gedichtband: "Die vorliegenden Gedichte sind das Ergebnis eines literarischen Umbruchs und Neuanfangs und gleichzeitig ein Destillat seiner bisherigen Lebens-, Lese- und Schreiberfahrung." Das mit dem Umbruch und Neuanfang kann natürlich nur jemand nachvollziehen, der das gesamte dichterische Schaffen von Seferis kennt. Aber das mit dem Destillat kann ein jeder beim Lesen dieser Gedichte sofort und konkret empfinden. Wobei Seferis seine eigene Schreiberfahrung wiederum auch zu einem (weiteren) Thema in diesen Gedichten gemacht hat. In der Sommersonnenwende geht er näher darauf ein:
1.) Nicht abstrakt schreiben, sondern konkret, aus seinen eigenen Lebenserfahrungen heraus:
"Nimm dich an, wie du bist.
Das Gedicht,
versenk es nicht in den tiefen Platanen,
nähre es mit der Erde und dem Fels, die du hast."
2.) Verwende deine eigene Stimme, und versuche nicht, andere nachzuahmen:
"Das weiße Blatt Papier, mitleidloser Spiegel,
gibt nur das wieder, was du warst.Das weiße Blatt Papier spricht mit deiner Stimme,
deiner eigenen Stimme,
nicht mit jener, die dir gefällt;"
3.) Kultiviere deinen Eigensinn als Künstler:
"nimm den unbekannten Weg,
blindlings, trotzig,
und such Worte, verwurzelte
gleich dem knorrigen Olivenbaum -
lass sie lachen."
In diesem Sinne kann man diese drei Gedichte weniger als geheim oder heimlich, sondern vielmehr als privat verstehen, nämlich als ein Zeugnis davon, wie ein gestandener Dichter aus "seinem Nähkästchen plaudert". Und Peter Thompson, der diese drei Gedichte ins Englische übersetzt hat, hat ihnen dort ja auch den Titel "Three Private Poems" verpasst.
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