Akzente – „Wunder“
Noch einmal hat Jo Lendle das Konzept der 2015 von ihm übernommenen Literaturzeitschrift Akzente geändert. Hatte er zuvor je einen Mitherausgeber für die Gestaltung des Heftes eingeladen, überlässt er seit diesem Jahr die Gestaltung vollkommen den von ihm eingeladenen Autoren.
Das erste nach diesem Grundsatz von Theresia Enzensberger, Hans Magnus Enzensberger und Jonathan Penca gestaltete Heft, trägt die Überschrift „Wunder“. In den versammelten Beiträgen findet der Leser immer wieder Beispiele, wo Wunder gesucht und bisweilen auch gefunden werden. Aber keine Suche danach, was das Phänomen Wunder eigentlich bedeutet. Warum wir es so dringend zu benötigen scheinen. Ob es einen notwendigen Gegenpol darstellt zum durchrationalisierten Alltag. Aber so steht es ja bereits im Vorwort. Das Wunder, heißt es dort, solle als etwas Alltägliches erfahren werden. Also durchaus als Gegenpol zu dem, was herkömmlicherweise als Wunder definiert wird. Laut Wikipedia ist ein Wunder: „etwas, das über das alltägliche Verständnis hinausgeht, eine Überschreitung der anerkannten Naturgesetze.“
Die Texte bedienen beide Vorstellungen. Denn immer ist wenigstens von der Hoffnung die Rede, dass etwas über das Alltägliche hinausgeht, andererseits holen sie das Wunder (oder die Hoffnung darauf) durchaus in den Alltag. Wunder als Zwitter, diese Dichotomie bilden die Beiträge, die übrigens mehrheitlich religiöse und spirituelle Ebenen einbeziehen, durchaus gelungen ab. Trotzdem entsteht der Eindruck, als hätte das Wunder in der Religion seinen Hauptwohnsitz.
Elvia Wilk schreibt von der Mystikerin Marguerite Porete, die das Wunder vollbringt „das Selbst aktiv im Namen der Liebe“ zu dekonstruieren. Während Leon Dische Beckers Text über die Rastafari, die Dekonstruktion eines Wunders ist. Dische Becker zerlegt die Entstehung der Religion der Rastafari in viele merkwürdige Zufälle, die schließlich in der Anbetung von Haile Sellasie mündete.
Alles hat irgendwie mit Religion zu tun. Glauben und Mystik sowieso. Aber auch Schönheit und Musik. Helene Hegemann schreibt in ihrer Laudatio auf Virginie Despentes „[…]wie Despentes die Musik des 21. Jahrhunderts zur Grundlage der Liturgie einer Religion macht, die in 2000 Jahren aus den in den Romanen geschilderten Begebenheiten hervorgegangen sein wird.“
Andererseits verschweigt Despentes, ebenso wenig wie Dische Beckers Text über die Rastafari, die Rückkoppelungen und Wechselwirkungen von Religion und wirtschaftlicher Macht. Manchmal ist das Wunder ausschließlich kapitalistischer Natur. So kommt Theresia Enzensberger zu Ende ihres Berichtes über den Wonderbra zu dem Schluss:
„Nein, das eigentliche Wunder des Wonderbras ist es, Frauen und vor allem jungen Mädchen, die kleine Brüste haben und daher überhaupt keine BHs gebrauchen können, trotzdem welche zu verkaufen.“
Essayistische Annäherungen an das Phänomen Alltagswunder wechseln sich ab mit Erzählungen, in denen Wunder wohnen. Besonders beeindruckend die verstörend wundersame Geschichte von Thomas Knoffel. Eher desillusioniert als sarkastisch sind die Frauen, die in Jovana Reisingers Spa Hotel Global Beauty versuchen das Wunder der Schönheit für sich selbst wahr werden zu lassen.
Margarete Stokowski hingegen lässt Wonder Woman und Hannah Arendt aufeinander treffen. Ein philosophischer Text über politische Verantwortung. Dabei besteht das Wunder von Wonder Woman darin: „dass sie Kräfte hat, von denen sie selbst nichts geahnt hat – und die Menschen um sie herum auch nicht.“ Konsequent läuft der Text auf die Notwendigkeit heraus, als Frau dazu beizutragen, dass derartige Wunder der Selbstermächtigung zunehmend alltäglich werden. Stokowski schreibt:
„Das Gute: jede Frau, die politisch handelt, wird weitere nach sich ziehen weil es immer normaler wird, dass wir Frauen als mächtige Menschen sehen. Es mag manchmal nicht danach aussehen, als würde es besser werden. Aber da können wir ruhig wieder auf Hannah Arend hören, wenn sie schreibt: Wenn es also im Zuge der Ausweglosigkeit, in die unsere Welt geraten ist, liegt, Wunder zu erwarten, so verweist diese Erwartung uns keineswegs aus dem ursprünglichen politischen Bereich heraus. Wenn der Sinn von Politik Freiheit ist, so heißt dies, dass wir in diesem Raum – und in keinem anderen – das Recht haben, Wunder zu erwarten.“
Auch die negativen Wunder werden nicht ausgespart, in Simon Strauß Bericht einer Nacht in der Notaufnahme, steht dem Wunder des geretteten Lebens das Wunder der Auslöschung sämtlicher Fähigkeiten durch einen Schlaganfall gegenüber. „Irgendwo auf dem Weg von der Arbeitsstätte zur Klinik, als der Hippocampus zu lange unversorgt war, hat er sein Gedächtnis verloren.“ Und auch hier, in diesem Bericht, spielt erneut das religiöse, spirituelle Element hinein: „Man muss all jene bewundern, die hier Tag und Nacht arbeiten, in diesem großen, grauen Klotz am Rande der Stadt, in dem jeder von uns eines Tages liegen wird. In der säkularisierten Gesellschaft sind sie so etwas wie letzte Heilige, die ihre Hand über uns halten, immer aufs Neue, am Tag und in der Nacht.“
Hans Magnus Enzensbergers linguistische Annäherung an das Phänomen „Wunder“ ist übrigens der einzige Beitrag, in dem Gedichte wenigstens als Zitate vorkommen. Sonst findet man Lyrik in dieser Ausgabe nicht. Das mag kein Wunder sein. Schade ist es allemal.
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