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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Ein Meister alter Schule

Essays von Ernst Weiß neu aufgelegt

Geschliffene Essays, also zugespitzte Prosastücke mit subjektiven Ansichten und hellsichtigen Überlegungen zu meist kulturellen Themen in einer verständlichen Sprache, findet man in der gegenwärtigen deutschen Literatur immer seltener. Da ist es vielleicht hilfreich, an Meister dieses Genres aus einer Zeit zu erinnern, in der das Lesen noch eine  Gewohnheit breiterer Kreise war und mit gewissen Bildungsvoraussetzungen weithin gerechnet werden konnte. Die Zwischenkriegszeit im vorigen Jahrhundert war so eine Epoche, und der Romancier und Arzt Ernst Weiß (1882-1940), der trotz der vielen Bemühungen um sein Schaffen neuerlich in Vergessenheit zu geraten droht, gehörte damals zu den geschätzten Schriftstellern, von denen das Publikum nicht nur neue Prosawerke lesen wollte, sondern für deren Stellungnahmen zur Gegenwart es sich nicht minder interessierte.

Der in Brünn geborene Autor, der in seinen Anfängen mit Franz Kafka befreundet war und bis zu seiner Flucht aus Nazi-Deutschland jahrelang in Berlin lebte, veröffentlichte seine einzige Essaysammlung „Das Unverlierbare“ 1928 bei Ernst Rowohlt. Fünf Jahre zuvor hatte übrigens kein Geringerer als Kafka selbst dem Schweizer Schriftsteller und Kunstmäzen Carl Seelig eine Sammlung der Aufsätze von Weiß zur Publikation empfohlen, einige der in Frage kommenden Stücke benannt und dazu geschrieben: „Diese Aufsätze haben meinem Gefühl nach alle Vorzüge seiner erzählenden Schriften, ohne sich abzuschließen wie jene.“ Aus dieser Veröffentlichung wurde im ersten Anlauf zwar nichts, aber der Plan umfasste schon damals die wesentlichen Arbeiten, die dann auch die tatsächlich in 4.000 Exemplaren erscheinende Sammlung „Das Unverlierbare“ enthält.

Weiß war – neben seiner literarischen Produktion – auch ein einsichtsvoller Rezensent, belesen wie wenige, und hatte zu wichtigen Zeitfragen seine Stimme immer wieder erhoben. In der Sammlung dieser Texte zog er nun eine Art Summe seiner essayistischen Tätigkeit, die für ihn keineswegs eine Nebensache war. Er schrieb über den von ihm sehr verehrten Mozart, den er einen „Meister des Ostens“ nennt, er huldigte Goethe, in dem er den überragenden Dichter und großen Menschen vereint sieht, er würdigt den tragischen Kleist und das Freundespaar Flaubert und Maupassant, und dem „Weltschöpfer“ Balzac verfasst er eine „imaginäre Vorrede zu seinen Werken“. In den 27 Essays geht es auch um Themen wie den „Genius der Sprache“, die „Kunst des Erzählens“ oder den „Neuen Roman“, also rein literarische Gegenstände, während im letzten Teil der Sammlung Zeitgenössisches zur Sprache kommt in Aufsätzen wie „Aktualität“, „Frieden, Erziehung, Politik“ oder „Tod, Erkenntnis, Heiligkeit“, letzterer Aufsatz auch eine Auseinandersetzung mit dem Buddhismus.

In dem Essay, der dem Band seinen Titel gab, zeigt sich Weiß, der ja Medizin studiert hatte und einige Zeit als Chirurg tätig gewesen war, als Kenner naturwissenschaftlicher Errungenschaften, beurteilt die Ergebnisse aber eher skeptisch, wie überhaupt der ganze Aufsatz angesichts der fürchterlichen Erfahrung des Ersten Weltkriegs von einem tiefen Pessimismus durchzogen ist. An „Unverlierbarem“ findet der Verfasser in einer „entgötterten“ Welt fast nichts, denn die Kirchen sind nicht weniger „blutbefleckt“ als die gescheiterten gesellschaftlichen Kräfte, und von den Wissenschaften ist kein Heil zu erwarten. Nur aus den großen Schaffenden wie „Bach, Mozart, Kant, Goethe“ oder den großen Ärzten und Forschern, den „großen Lichtern in der Dunkelheit“, könnte eine verstörte Menschheit „vielleicht“ sich selbst „neue Götter schaffen“.

Solche Gedanken scheinen auf den ersten Blick für unsere Tage nicht sonderlich attraktiv zu sein, und doch lässt sich in mancher Weise an den Wissenschafts-Skeptizismus von Ernst Weiß und mehr noch an sein Plädoyer für die östlichen Weisheitslehren anschließen, die ja durchaus wieder Konjunktur haben. So gesehen ist es verdienstvoll, wenn der Lexikus Verlag in Berlin die Sammlung „Das Unverlierbare“ nach mehr als 80 Jahren wieder herausgebracht hat. Er konnte das tun, weil die Schutzrechte am Schaffen von Ernst Weiß 70 Jahre nach seinem Tode abgelaufen sind und auch keine Verlagsrechte in Mitleidenschaft gezogen werden, denn der Suhrkamp Verlag publizierte zwar in seiner 1982 vorgelegten 16bändigen Weiß-Werkausgabe auch die Essays, aber er löste dabei die ursprüngliche Reihenfolge der Aufsätze auf und ergänzte sie durch weitere Arbeiten auf das mehr als Dreifache der ursprünglichen Anzahl.

Wenn nun also die Sammlung von 1928 wieder als Einzelband vorliegt, so hätte man sich dazu eine inspirierende Einführung gewünscht, worin die Besonderheit der Texte auf den Punkt gebracht würde und die zugleich ein stimmiges Lebensbild des Autors böte. Davon ist Ehrhard Bahr, dem als Vorwortverfasser ein „Prof. Dr.“ angeklebt wird – für derartige Einführungen ganz ungewöhnlich – einigermaßen entfernt. Der emeritierte amerikanische Wissenschaftler gibt Weiß gleich im ersten Satz die Note, dass er ein „hochbegabter Erzähler und Dramatiker“ sei, so als hätte der Schriftsteller ein solches Prädikat nötig, ganz davon abgesehen, dass Weiß als Dramatiker – es sind ganze zwei Stücke von ihm überliefert – keine Rolle spielt und sich selbst in dieser Gattung als gescheitert angesehen hat.

Schwerer wiegt eine arge Fehleinschätzung, die Bahr bei der „Würdigung“ des Essays „Der neue Roman“ unterläuft. In diesem Aufsatz behauptet Weiß überspitzt und leicht provokativ, das Goethes „Faust“ der „größte moderne Roman“ sei. Der Vorwortschreiber nimmt das für bare Münze und unterstellt, dass mit dieser Formulierung von Weiß die „Prosadichtung des 20. Jahrhunderts negiert“ werde, der Schriftsteller also etwa von Döblin, Joyce oder Proust keine Kenntnis nehme. Das stimmt allenfalls für diesen speziellen Essay, ansonsten ist das gerade Gegenteil richtig, denn hat Weiß ja Proust sogar übersetzt („Tage der Freuden“), sondern ausgesprochen fundierte Texte nicht nur über Joyce, sondern über Joseph Conrad, Dos Passos, Hemingway, Heinrich und Thomas Mann oder Italo Svevo verfasst, um nur diese Autoren zu nennen.

Der Vorwortschreiber, der bei der Nachzeichnung des Lebensweges von Ernst Weiß – ohne jede Quellennennung - wenigstens die sonst meist üblichen sachlichen Fehler weitgehend vermeidet, sieht die Sammlung „Das Unverlierbare“ offenbar als die Quintessenz des essayistischen Schaffens von Ernst Weiß an, der Band war aber in Wahrheit allenfalls eine Zwischenbilanz. Viele wichtige Aufsätze hat Weiß erst danach geschrieben, die Palette seiner Themen ergänzt, das Spektrum der behandelten Autoren erweitert und seine Argumentation vertieft. Das hätte unbedingt gesagt werden müssen, wenn man dem Essayisten wirklich hätte gerecht werden wollen. So ist eine vergebene Chance zu beklagen, und beklagt werden muss leider auch die Textgestaltung dieses Bandes. Allein schon beim Überprüfen des Titelessays ließen sich drei sehr sinnentstellende Abschreibfehler feststellen, so dass anzuraten ist, nicht nach dieser Ausgabe zu zitieren, sondern entweder das Original oder die Suhrkamp-Ausgabe heranzuziehen.

Ernst Weiß
Das Unverlierbare
Lexikus
2011 · 150 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-940206305

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