Kolumne

Entdeckenswert

Hitze und Erinnerung: Hernán Ronsinos Pampa-Zyklus

Der Leipziger Buchmesse wegen ist ein neues Buchjahr eingeläutet: alles geht wieder seinen Gang.

Davor, in der buchmesselosen Zeit zwischen den unausweichlichen Großveranstaltungen in Frankfurt und Leipzig, ist es beispielsweise mit Rezensionen immer so eine Sache. Wichtiges gilt als gesagt und vorgestellt und die Feuilletons setzen gern zur Jahresrückschau an: das waren unsere wichtigsten Bücher!

Manchmal wird, auch das gibt es, -ein bisschen- selbstkritisch aufgedröselt, wen man im Jahresverlauf -ein bisschen- vergessen hat und warum das nicht sein sollte. Das scheint ganz sinnvoll, aber  man muss fürchten, dass es bei der Fülle an Titeln eines Jahres  trotzdem noch Einige gibt, die ein neues Mal unerwähnt bleiben und dann also, ganz unbequem, die vergessenen Vergessenen sind.

Ist einem als Autor das mit dem Vergessenwerden allerdings schon wiederholt passiert, hat man wohl verdient, zu Buchjahresanfang einmal bemerkt zu werden. Hernán Ronsino ist ein solcher Kandidat.

Der Argentinier –und ab hier wird es spannend- hatte im letzten Jahr ohnehin nicht viel mit Buchmessen zu tun. Sein Roman erschien im Sommer, sein Schweizer Verlag war zwar Frankfurter Messegast, aber einer mit kleinem Stand. Und so lohnt es sich, einen Schriftsteller hervorzuholen, der in seiner Heimat als Erneuerer der Erzähltradition gefeiert wird.

In Auflösung, das neue Werk Ronsinos, ist eigentlich ein altes.

Vor über zehn Jahren im Original erschienen, war es der Debütroman des 1975 geborenen Schriftstellers. Man kann von Ironie sprechen, dass der Beginn einer aus drei Büchern bestehenden Reihe jetzt zum Ende, zum letzten Puzzlestück, geworden ist. Kennt man die Bücher und ihren Aufbau aber, merkt man: das passt ganz gut. Denn ihr Anfang lässt sich oft nur aus dem Ende verstehen, wie im Deutschen 2012 in Der letzte Zug nach Buenos Aires erstmals feststellbar war. Der Kurzroman legt einen Kriminalfall dar, der erst in den letzten Sätzen als solcher erkennbar wird. Mit einer an James Salter erinnernden Genauigkeit breitet sich Szene um Szene aus; die Geschichte erzählen verschiedene Personen, die getrennt durch Jahrzehnte Zwischenraum und nicht chronologisch sprechen.

Erstmals findet man sich in der Erzählregion, der Erzählwelt, Ronsinos Heimatstadt Chivilcoy ein.

Der „Zyklus“

Drei Bücher sind es, die die Stadt in der Pampa (170 Kilometer von Buenos Aires) umkreisen: In Auflösung, Letzter Zug nach Buenos Aires und Lumbre, der angesprochene Zyklus.

Gemeinsam ist ihnen eine Stimmung, unbestimmt, von Verfall geprägt, sodass das Thema, Erinnerung, richtig gewählt scheint.

„Ich betrachte also die Art, wie die Stadt -oder ist diese Abfolge von Resten immer noch ein Städtchen?- allmählich zerfällt. Die offenen Schuppen, die von Gras überwucherten Gehsteige, der Straßengraben. Die Anhänger. Der unbebaute Grund hinter dem Schornstein der Glaxo-Fabrik, während der Bus wendet, um an der Haltestelle zum Stehen zu kommen und damit seine Runde zu beenden, in diesem bruchstückhaften Licht, das etwas von Möglichkeit einschließt. Und von Niederlage an bewölkten Tagen.“

                                                                                  -Lumbre, S. 76

Einstieg bietet jeder Titel an, nichts baut wirklich aufeinander auf, nur Orte oder Personen, wenn auch gealtert oder jünger geworden, lassen sich wiedererkennen und man kann, wie die Figuren, nach dem Bekannten und Verblichenen suchen. Die argentinische Presse nennt die Serie Pampa-Zyklus, der Autor hat keinen fixen Titel.

Ein wenig aus dieser Reihe tanzt Lumbre, nicht aufgrund von Thematik, eher aus erzählerischen Gründen. Gibt es in den Büchern zuvor eine Storyline, besteht Lumbre (deutsch: Glühen) einzig aus Erinnerung und Geschichten, zur Handlung wird Chivilcoy.

Drei aufeinanderfolgende Tage darf man als Leser, zusammen mit Hauptfigur Federico Souza, dort verbringen. Es sind drei Tage, die dahingehen wie ohne Sonnenauf- und Sonnenuntergang. Dauerhaft ist die südamerikanische Hitze der Stadt zu spüren; dort war Souza 12 Jahre nicht mehr und findet jetzt an jeder Ecke –natürlich- eine Geschichte. Das passiert ganz zufällig, das Auftauchen einer neuen Geschichte ist nicht zu bemerken, es gilt:

„Jedes Stück Mauer in dieser Stadt trägt, wie eine Haut, die Spuren meiner Geschichte.“

Man erfährt von Jugendfreund Areco, von Arbeitern mit Profiradfahrerambitionen aus Bustos Ziegelei, von der ehemaligen Lehrerin Ravignani, die das Gedenken an den realen Dichter Carlos Ortiz hochhält, den Industrieruinen.

Der Begriff „Atmosphäre“ wird in der Kritik inflationär verwendet, diesmal ist auf ihn zu pochen. Ronsino schafft es, konstant in großartigem Ton zu erzählen: die Bücher bestehen aus Stimmungen, die immer wieder durch poetische Sätze entstehen.

Die Sprache zeigt sich eigen und  rätselhaft.

„Ich hatte beschlossen, nach dem Spiel abzureisen. Über Land zu fahren, die Felder entlang bis nach Buenos Aires hinein, während ganz Argentinien, stellte ich mir vor, die Weltmeisterschaft feierte. Denn so fühlte ich mich, abseits von jedem kollektiven Rausch (…) In einer individuellen Wirrnis zu versinken. Während das ganze Land ein historisches Ereignis feierte. Ich wollte etwas verpassen. Ich wollte weiter verlieren. (…) Zu keinem Zeitpunkt hatte ich die andere Möglichkeit bedacht: das Tor für Deutschland kurz vor Ende der Spielzeit. Denn diese andere Möglichkeit verbrüderte mich gewissermaßen mit der Niederlage.“

                                                                       -Lumbre, S. 236

Der Grund für Souzas Ankunft in Chivilcoy ist es übrigens auch, rätselhaft: Pajarito Lernú ist gestorben und hat ihm eine (gestohlene) Kuh vermacht.

In Auflösung

Über den verstorbenen Lernú –kafkabegeistert- berichtet das neue (alte) Buch weiter, obwohl er kein Hauptcharakter ist. Die Story: Abelardo Kieffer lädt Bicho Souza, Vater von Federico, für ein Grillfest zu zweit ein – da „es Zeit ist, um die Trauer hinter sich zu lassen“. Mehr als jedes andere des Zyklus beschäftigt sich das Buch mit menschlichen Abgründen, den Spuren die sie hinterlassen in Stadt und Mensch. Teils in Montagetechnik sind Ich-Erzählung, Erinnerung und Gespräch zusammengebaut.

„Zum Beispiel das Gato Negro. Inmitten der Kargheit erhebt sich ein Ring aus Grundmauern um einen schwarzen Mosaikboden. Nur daran erkenne ich den Ort wieder. Die Zimmer lagen im rückwärtigen Bereich. Von ihnen bleiben keine Spuren. Ich versuche, im Kopf zu rekonstruieren, wie sich hier alles verteilt hat. Wo der alte Pujol mal ein Messer ins Bein bekam.“

                                                                       -In Auflösung, S. 93

Dennoch muss der herausgebende Bilgerverlag sich keinen Vorwurf machen, In Auflösung nicht zuerst veröffentlicht zu haben. Denn kennt man die anderen Bücher noch nicht, ist alles zumindest partiell verwirrend und merkwürdig. Man droht die Orientierung in den vielen Nebensträngen zu verlieren. Letzter Zug nach Buenos Aires bleibt das zugänglichste, vielleicht auch das beste Buch der Reihe.

Eine ungewohnte Stimme

Lesen sollte man Hernán Ronsinos Chivilcoy-Streifzug, wenn einem nach frischer Literatur ist. Etwas mehr als 500 Seiten hat die Reihe und doch wird unheimlich viel erzählt.

„(…) er, also Montes, hätte an dem Abend nicht wetten wollen, nur weil er so ein Schisser sei, eigentlich sei er sich nämlich sicher gewesen, dass der junge Levi diesen Brocken aus Mechita umhauen würde; und während Montes redet und ich ihm wortlos die fettigen Haare stutze, taucht draußen an der Ecke bei Souza Miguelito Barrios auf, der sich an der Lehmmauer abstützt und mühevoll einen Fuß vor den anderen setzt, blass und dünn, ganz wie mein Vater. Ich unterbreche die Arbeit, lasse die Schere sinken. Montes merkt es nicht, er redet einfach weiter, dieser Lavi hätte zwar ausgesehen wie ein Jammerlappen, aber er, Montes, hätte gewusst, dass Lavi den Großen umhaut. Erst als eine ganze Weile vergeht, ohne dass die Schere in sein Haar fährt, dreht er sich nach mir um; da sieht Montes, wie ich Miguelito Barrios beobachte, der jetzt Souzas Metzgerei betritt. Ist der wieder da, sage ich überrascht. Ja, aber anscheinend ist nichts zu machen, sagt Montes leise, und seine Stimme klingt anders, ängstlich. Und dann seufzt er und vergisst für einen kurzen Augenblick den jungen Lavi und die ganze Prügelei im Bermejo.“

                                   -Letzter Zug nach Buenos Aires, S.18/19

Das geschieht auf ungewohnte, kunstvolle Weise, zum einen mit Präzision und Feinheit -die Sprache ist kleinteilig-, zum anderen mit großer Übersicht und ausladenden Bögen. Dass dieser Spagat gelingt: ein Grund den Pampa-Zyklus zu entdecken.

Vielleicht darf man als Zusatz noch die Wertschätzung Ronsinos in Südamerika nennen, die krass der Nichtbeachtung im deutschsprachigen Betrieb entgegensteht. Besonders gilt das fürs hoch ausgezeichnete Lumbre, für Indie-Verleger Ricco Bilger schlechter Absatzzahlen wegen eine wirtschaftliche Katastrophe.

Die Reihe überhaupt lesen zu können, liegt übrigens auch an Luis Ruby, einem fantastischen Übersetzer, der Lumbre  mit einem benötigten und perfekten Anhang für den deutschsprachigen Leser versehen hat.

Alles in allem also eine Reihe, die –ein bisschen- Entdeckung verdient.

*

Letzter Zug nach Buenos Aires
Hernán Ronsino
104 Seiten, 19 Euro
Bilger Verlag 2012

 

 

 

Lumbre
Hernán Ronsino
340 Seiten, 25.80 Euro
Bilger Verlag 2016

 

 

 

in Auflösung
Hernán Ronsino
127 Seiten, 19.80 Euro
Bilger Verlag 2018

 

 

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