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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Dinge, die für die anderen unsichtbar sind

Hamburg

Es ist ungewöhnlich, dass ein Autor ein veröffentlichtes Werk noch einmal bearbeitet und als "neue Version" nur wenige Jahre später erneut herausgibt. Jonathan Littell, mit Die Wohlgesinnten einer der bestbewaffneten Autoren aller Zeiten, tut dies mit Eine alte Geschichte (Neue Version), zuvor bei Matthes & Seitz jetzt bei Hanser Berlin neu erschienen.

Es war kühl in dem Apartment, fast kalt.

Dieser Roman ist ein obsessives Kunstwerk, selten streng komponiert um ein bitterernst durchgehaltenes Kabinett von traumverwobenen Begriffen: Stromausfall, Apfel, Meeresfrüchteessen, Mozart-CDs, die Dame im Hermelin und andere wieder auftauchende items eines durch ein Schwimmbad irrendenden Sade-Panoramas aus Lust und Gewalt. Die Erzähler*infigur ist in der Lage, durch das Öffnen von Türen, sich in andere Welten und Räume zu begeben, in denen eben wie im Traum (hauptsächlich Alptraum) Szenarien aus dunkelsten Fantasien Gestalt annehmen, innerhalb derer in letzter Minute eine Fluchttür geöffnet werden kann, die zurück ins Schwimmbad führt, wo weitere Bahnen gezogen werden.

Allerdings war ich noch so zerstreut, dass ich mich wiederholt an den Wänden stieß, denn das ungewisse Licht verwischte mögliche Anhaltspunkte, und es gelang mir nicht immer, sie richtig einzuordnen; gelegentlich tauchten dunklere Zonen auf, vielleicht Abzweigungen oder auch Nischen, ich vermied sie und bemühte mich, in der Mitte des Gangs zu bleiben, während ich mich mit kleinen, regelmäßigen Schritten vorwärtsbewegte und meine Laufschuhe gedämpft auf den Boden trafen, der ebenso glatt war wie die Wände. Ich atmete gleichmäßig, in kurzen, raschen Zügen, ohne mich zu verausgaben, ich wusste, dass ich noch lange so weiterlaufen konnte. Von Zeit zu Zeit blickte ich zur Seite, und so bemerkte ich einen verkupferten Vorsprung, einen Griff, ich packte ihn, öffnete eine Tür und überquerte die Schwelle, ohne mein Tempo zu drosseln.

[...]

"Hör zu, sei nicht blöd, das war nur ein Spiel [...] Du bist doch dafür bezahlt worden, oder? Komm, mach mich los! Du kriegst auch noch mehr. Stell dich nicht so an. Du darfst das nicht so ernst nehmen, das war nur eine Fantasie."

[...]

Als der Graben ausgehoben war, befahlen sie beiden Männern, sich an den Rand zu stellen, und mit einer Kugel mitten in die Stirn richtete mein Geliebter sie eigenhändig hin.

Der Roman ist dermaßen hart zu lesen, dass einem der Atem stockt, die expliziten Gewalt- und Sexexzesse sind mit derselben Haltungslosigkeit geschildert, die Littell in den Wohlgesinnten vorbringt und die die Lesenden auf sich selbst zurückwirft. Hier aber ohne jeden (historischen) Bezug. Vielleicht das Menschsein an sich, mit der Quelle des Brutalen in sich, in allen. Die verschiedenen Erzählgeschlechter (die grenzenlos frei gewechselt oder addiert werden können auf jeder Seite) vergewaltigen, quälen, foltern, werden verstümmelt, werden zu Opfern, zu Objekten dass man nicht anders kann, als auf den nächsten Türgriff zu hoffen. Dabei ist die Sprache, äußerst gekonnt von Hainer Kober übertragen, eine kühl sezierende, die durch ihre komplexe Webestruktur an keiner Stelle in die Fallen bloß mechanischer Aufzählung tappt. All die Schlachtfeld-, Swingerclub-, Gangster-, Bürgerkriegs- oder Knastszenarien, die Kinder- und Familienhorrorstrips erinnern als Ideen-Kaleidoskop vielleicht noch am ehesten an Buñuels Gespenst der Freiheit, sie tragen gewiss auch eine Oberflächenästhetik vor sich her wie von David Lynch u.a. beschworen und es gibt vielleicht Literatur von Guyotat, Bataille und anderen (typisch französischen maudits) oder American Psycho, aber so etwas wie Littell hier, ist schwer woanders zu finden. Der Grat zwischen Kunst und Gewaltkabine aus alptraumhaftem Begehren ist völlig abgeschliffen, das Lesen wird selbst gewalttätig, scheints.

Selbst das Klischeehafte, der omnipräsente Kitsch, die Vorhersehbarkeiten haben ihren Platz. Es ist die unbarmherzig planerische Struktur des ganzen als Kunstkomposition, die womöglich die ästhetische Essenz darstellt. Die Lesendenreaktionen sollte jede*r für sich ausprobieren. Es ist leicht, das Buch abzulehnen und schwer es hochzuhalten. Fast möchte man Littell bitten, sich zu äußern. Eines ist jedoch völlig gewiss, es ist an Radikalität und Tabubrechung sehr weit vorne im Weltraum.

"Willst du mit mir spielen?" – "Einverstanden. Aber ich mag keine Puppen." – "Das ist nicht schlimm. Wenn dir das lieber ist, es sind auch Soldaten da. Wir können Krieg spielen."

Jonathan Littell
Eine alte Geschichte
(Neue Version)
Übersetzung:
Hainer Kober
Hanser Berlin
2019 · 334 Seiten · 26,00 Euro
ISBN:
978-3-446-26041-2

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