Anzeige
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
x
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

erzerweichend

Hamburg

Die Winterreise als Angelpunkt von Wort und Ton tritt topophil in Franz Josef Czernins zuletzt erschienenen Gedichtband auf, reisen, auch winterlich, um neu erfahren und eingesprochen zu werden. Drei Teile plus ein Postskriptum, Bezug nehmend auf den Angelus Novus, – jenes sagt:

Wenn ein tradiertes Vergangenes im gegenwärtig oder gar zukünftig Neuen aufgegeben ist oder ein neues oder zukünftig Gegenwärtiges  – schuldbewusst – im tradierten Vergangenen von sich Aufhebens macht; wenn das Verworfene, nämlich tradierte und immer einigermaßen Misslungene, gerade das Neue oder zukünftig Gegenwärtige beinahe glücken lassen kann und umgekehrt das gegenwärtig oder zukünftig Missglückende das tradierte Vergangene nahezu gelingen, dann bleibt der Kreis, der und den das poetische Ganze um- und wieder umschreibt, immer im Begriff, sich zu schließen.

Czernin schließt, verschlossert und ölt sich durch Kristalle, die keiner kennt, aber die so aussehen wie Gekanntes oder Gehörtes. Je überraschend und jäh in die Metrik o.ä. des Tradierten fallend, später hinein in ein neues kaltes Land, verspielt und nicht wenig bitter. Eine kurze, prägnante Sprachreise. Im ersten Teil, wie auch im Dritten, sind Vertreter jener Art zu finden wie

                Des Himmels graues Kleid

was immer wandert, will auch streifen,
selbst durchs eigene gewand,
da ferner ausgezogen sind,
die wände liesst zurück geschickt;
im greifen nach besternten bändern,
stelln ungewohnte schuh bloss nackt,
mit leichten händen schleifen drehst;
zu mustern sind versandt einander,
unbedacht nicht allseits unterm zelt:
im schweifen fremd, heim wenig suchen,
im staub verläuft auch, was verändert:
fast ausser ländern bin und allem rand:

durchs bare hemd zuletzt musst pfeifen.

Im mittleren Teil, der frisch duftet, abstrakt und trocken spielt, reduziert und verkieselt im Papier sitzt, jene neue Kristallwelt aufschließend, steht

post

dies schellen: da bin ich längst vernarrt,
herzlautend heftig, schlag um schlag;
rasch liefst, doch kaum auf uns hinaus,
mich nur am anderen platz liesst ein,

halbwach; was hier auf schwellen harrt,
mir bat sich erzerweichend kund:
fernlieb rief ort, gemeinsam weg,
da, töricht, räume trug aus weit,

dir nach; mir weh verfahren, dich hast
fortgemacht, doch offen tot verblieb;
sehr wund dir angetan, schrie blatt,
ja blätter dir im flug vom mund

an solcher fremden statt; mit tür
und ohr, doch fast verscherzt, an wort
uns, stelle gab anheim, bis art
für art verschmerzt bin, eingelangt.

Das Vokabular nährt sich aus Vokabular, rekapituliert und fügt frisch zusammen, was Wilhelm Müller / Schubert hineinwarfen, ergänzt um Strukturen wie "früh- und schmetterlings", "auf socken mach mich, schwanend dir, / da, flüchtig, mir gibst fersenglanz" oder "ja, die sterne flogen sämtlich tief, / als sie keinem mehr gewogen." In Czernins Arbeit überlagern sich die Richtungen des Aufbruchs. Sie werden nachwinkbar durch die Wiederholungen, Variationen und Zitate, sowohl von sich selbst als eben auch der Wortgeschichte, gesehen-praktiziert im Benjaminschen Werkzeug. Die Vermeidung gängiger pronominal- oder grammatikaler Routen macht vor allem den mittleren Teil zu einer interessant-abstrakten Arbeit, die Czernin selbst perfekt beschießt mit seinem Vers:

ja, sehr heiter, doch kaum richtig liege

Franz Josef Czernin
reisen, auch winterlich
Hanser Verlage
2019 · 80 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-446-26166-2

Fixpoetry 2019
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge