Zum Beispiel Larry
Dennis Coopers Mein loser Faden (übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Raimund Varga) ist ein Report aus dem Inneren einer Verwirrung. Es geht um die Suche eines Jugendlichen, Larry, nach seinen wahren Gefühlen, um Nähe, Akzeptanz und Liebe. Und es geht um Wut und Sexualität. Ein behutsames Buch, das aus der Sicht eines Highschooljungen erzählt, wie es unter Drogeneinfluss, zerrütteten Familienverhältnissen und psychischer Labilität zu sexueller Gewalt, Inzest, Selbstmordgedanken und Mord kommt. Und am Ende zu einem Highschool-Massaker.
Wir hätten hier alle Zutaten für einen reißerischen Roman, der zudem noch tagesaktuell sein will. Denn als er geschrieben wurde, war der im Buch öfter erwähnte Columbine-Amoklauf noch nicht lange her. Aber Cooper gehört zu den wenigen Autoren, wie David Foster Wallace oder Wolfgang Herrndorf, die es schaffen, sich in die tiefsten Gewässer erzählerischer oder sonst wo reproduzierter Klischees zu werfen und diesen künstlerisch unbeschadet wieder zu entsteigen, nachdem sie sie mit Eleganz durchschwommen haben (jeder der drei freilich mit einem ganz eigenen Stil). Um noch kurz im Bild zu bleiben: Anders als Autoren, die auf der tagesaktuellen Welle reiten, taucht Cooper tief, schaut nach, wie sie im Inneren beschaffen ist, er geht der Sache auf den Grund. Und weil er Dichter und kein Wissenschaftler ist und sein Thema seit jeher - wie er in Interviews betont hat - die Verwirrung ist, bekommen wir hier weder Antworten noch überhaupt bloß Gewissheiten.
Man kann von diesem Buch auf zwei Weisen verwirrt werden. Sagen wir, auf eine richtige und eine falsche. Die falsche Verwirrung stellt sich ein, wenn man sich von der vermeintlich einfachen Sprache und dem geringen Umfang des Buches täuschen lässt und versucht, es schnell zu lesen. Wenn man das Buch wegen seiner Inhaltsangabe gekauft hat und sich nun fragt, was es mit der dort erwähnten rechtsextremen Gruppe, der Todesliste, dem Auftragsmord, der Bruderliebe und den Schüssen, die fallen, auf sich hat, und sich nun über die erzählerischen Stolpersteine ärgern muss, die einem ständig in den Leseweg gelegt werden. Dann schüttelt man verwirrt den Kopf über die ständig wiederholte und revidierte Erzählung vom Tod von Larrys Freund Rand, von den Ellipsen, den Widersprüchen, den ungelenken Sätzen und der merkwürdigen Folgenlosigkeit aller Ereignisse (Befindet man sich denn in einer Parallelwelt, in der als normal gilt, was in unserer ganz abnormal ist?). Ja, hat er den Freund nun selber getötet oder nicht? Ist Larry schwul oder, wie er ständig betont, doch nicht? Hat er seinen Mitschüler vergewaltigt oder sich das bloß eingebildet?
Die richtige Verwirrung aber stellt sich ein, wenn man das Buch langsam liest, sich vorher kein Bild davon macht, wie ein amerikanischer Highschoolnazi auszusehen hat, man sich nicht fragt, ob es plausibel ist, dass ein Therapeut am Telefon mit anhört, wie einer seiner Patienten seine Eltern ermordet, und nicht die Polizei ruft usw. Wenn man sich dafür hinterher überlegt, was das für die Erzählkonstruktion bedeutet, und man sich die Freude macht, die Dialoge wie Kippbilder zu betrachten: Larry, der uns hier seine Version der Geschichte erzählt, ist, wie gesagt, nicht der Zuverlässigste. Ob die Dinge, die seine Gegenüber ihm sagen, sich immer auf das beziehen, was er glaubt, ist zweifelhaft. Zumal Larry, leicht autistisch, Schwierigkeiten hat, die Gefühle anderer richtig einzuordnen, wodurch er Blicke und Gesten umso genauer beobachtet. Zwischendurch hat er Blackouts, immer in emotional besonders aufgeladenen Momenten (wie Sebalds Ich in Schwindel. Gefühle), über die er auch bloß Vermutungen anstellen kann. Besonders virtuos sind Coopers Dialoge, wenn - oder sagen wir “geschickt”, denn “virtuos” könnte einen falschen Eindruck hinterlassen (er ist eher Ligeti als Schostakowitsch; näher bei Bresson als Jean Renoir; oder: auf der Beckett-Joyce-Skala ganz in Beckettnähe), also: Besonders geschickt (karg, aber präzise) sind seine Dialoge gebaut, wenn die Protagonisten telefonieren und ein Dritter im Raum ist: Larry telefoniert mit einem Freund oder seiner Freundin und stellt Vermutungen an, was ihre oder seine Worte in Anwesenheit eines weiteren Freundes bedeuten könnten. Oder worauf er oder sie dem Dritten eben geantwortet hat usw. Und die Leserin darf nun überlegen, welche Funktion diese Unschärfe innerhalb der Erzählung hat. Die Szenen sind zudem kurz, und meistens wird man mitten in sie hineingeworfen. In medias res, und Larry fasst zwischendurch in kurzen Sätzen zusammen, was unmittelbar zuvor passiert ist. Wir brauchen jedes Mal eine Weile, uns zurechtzufinden.
Das Scheußlichste kann hier, wie in anderen Romanen Coopers auch, erzählt werden, und man folgt Larry vielleicht nicht gerne, aber man vertraut dem Erzähler, dass man nicht unnötig an der Nase herumgeführt wird. Die Ambiguitäten sind somit keine Schwäche der Erzählung, sie sind nur ihr Thema. Ein Ich-Erzähler, der an der Welt leidet, sich aber nicht über sie erhebt, indem er seine Wut, seinen Ekel, seine Verzweiflung etc. aus Trotz oder Selbstbehauptung über allem ausgießt wie einen schwarzen Zuckerguss (wie bei Céline, Bernhard oder Handke). Hier versucht einer, und das darzustellen scheint mir die viel schwierigere Kunst, sich wirklich zurechtzufinden. Es wird auch nichts geraunt, nichts schwammig metaphorisiert. Wenn etwas nicht konkret benannt werden kann, dann weil damit ein Nichtbenanntwerdenkönnen benannt wird. So verwirrt Larry ist, so limitiert sein Wortschatz ist, und so begrenzt seine Fähigkeit, Gefühle zu benennen, so direkt ist er auch. Er benennt seine Verwirrung klar, teilt mit, was er nicht versteht, was er bloß vermutet usw. Es wird keine zusätzliche Distanz zur Welt geschaffen. Die Distanz zur Welt ist schon da, Larry sucht ihre Nähe. Das schafft eine Unmittelbarkeit beim Lesen, die Mitleid erzeugt.
Dennis Cooper, der im deutschsprachigen Raum vor drei Jahren kurz im Gespräch war, weil Google aus Zensurgründen seinen Blog ohne Vorankündigung löschte, ansonsten aber bis dahin trotz einiger Übersetzungen seiner Bücher eher unbekannt blieb, schreibt seit den frühen 80er-Jahren. Erst Gedichte, dann seinen fünf Romane umfassenden George-Myles-Cycle, in dem es auch schon um verwirrte schwule Teenager ging. Clemens Setz, in seiner Volltext-Kolumne über nicht mehr lieferbare Bücher, war vor einigen Jahren der erste Autor oder Kritiker mit größerer Reichweite (in Deutschland, Österreich und der Schweiz), der auf die Zartheit dieser Prosa hinwies. Nichts an ihr ist billig, nichts ruft: Kuckt her! Ich schreibe über Tabus, auf die ihr euch einen runterholen könnt. Eher scheint es so: Wovon der Autor schreibt, das sucht ihn selber heim. Uns Lesern bringt er es so diskret und klar wie möglich nahe. Dass es trotzdem schwerverdaulich ist, liegt am Ende nicht in seiner Verantwortung. Mit dem luftschacht Verlag, in dem bereits ein Roman Coopers erschien und der für dieses Jahr einen weiteren ankündigt, bekommen seine Bücher, was Layout und Ausstattung angeht, eine würdige Heimat.
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