Vom Verschwinden
Das Erscheinen dieses Bandes liegt nun schon eine Weile zurück. Geht man nach der Zeitrechnung des Literaturbetriebs, liegt es wohl in einer uneinholbaren Vergangenheit. Aber Zeit sei, schreibt der Mönch und Philosoph von Ockham in seinem Aristoteleskommentar, etwas, das Gott dem Menschen geschenkt habe, dass er an der Unendlichkeit nicht verzweifle. Zeitlichkeit in einem fast theologischen Sinne scheint mir das zu sein, was den Texten Kochs zugrunde liegt. Nicht dass sie selbst welk sind, aber sie bedenken das Vergehen im Augenblick. Womit auch gesagt sei, dass wir es nicht mit formalen Experimenten zu tun haben, abgesehen davon, dass jedes Kunstwerk ein Experiment darstellt.
Es ist nicht so einfach zu formulieren, was ich (für mich) von Gedichten verlange. Einfacher ist es vielleicht, welche zu schreiben, als ihnen zu begegnen. Als ihnen zu begegnen und zu grüßen. Als ihnen zu begegnen, zu grüßen und eine Weile mit ihnen zu (na gut, benutzen wir dieses Wort) verweilen.
Was macht also einen solchen Text aus, bei dem ich verweilen möchte? Ein wenig drücke ich mich um die Beantwortung dieser Frage, wenn ich schreibe, dass der gesuchte Text jener ist, der diese Frage zum Verschwinden bringt.
Mit „Lang ist ein kurzes Wort“ legt Ulrich Koch einen Gedichtband vor, der einige Texte enthält, die eben jenes erreichen. Sie eröffnen dem Leser eine Welt, deren ureigene Struktur die ihnen angemessenen eigenen Fragen aufkommen und meine fremden herangetragenen verstummen lässt. Bleibt letztlich nur die eine: Wie hat der Autor das gemacht?
„Für einen Moment bin ich die junge Frau,/ die in diesem Moment bemerkt/ dass ich sie beobachte/ und aus dem Fenster schaut ...“
Diese Verse finden sich im Gedicht Zwischenfall auf Seite 62 des Bandes. Es ist nicht das stärkste Gedicht darin, aber eines, das etwas vom Verfahren des Autors preisgibt, denn es berichtet vom Schauen und von der Verwandlung, die dem Schauenden widerfährt.
Denn der ganze Band handelt letztlich davon. Vom Schauen, und von der Epiphanie, die sich dem Schauenden entbirgt. Ich war, schreibt der Dichter und ehemals katholische Theologe Arnold Stadler in seinem Nachwort, als ich in diesen Gedichten las, wie auf einem immerwährenden Nachhauseweg.
Es ist, so könnte man meinen, als wollten die Gedichte an einen Urgrund zurück. Mein Versuch einer Antwort auf die eingangs gestellte Frage wäre der Versuch, diesen Gedichten gegenüber die Haltung einzunehmen, die der Autor, als Hervorbringer des Textes, im Moment der virtuellen Weltschöpfung selbst einnimmt, und mir scheint, dass dies eine Haltung des puren Wahrnehmens ist.
Jetzt höre ich die Seminaristen des philosophischen Oberseminars aufjaulen. Was das denn sein könne, werden sie fragen: pures Wahrnehmen. Soll hier einer Entkörperlichung das Wort geführt werden, und gehöre nicht zum Wahrnehmen der Wahrnehmende in all seiner physischen Präsenz mit Tinnitus, Kurzatmigkeit und Rückenschmerz? Ganz Recht, liebe Kollegen, doch hatten wir eingangs über das Vergessen gesprochen. Und wir bewegen uns im Rahmen eines Buches, das vergessen läßt, warum wir uns darin bewegen, indem es auf das verweist, was vor ihm liegt.
Im Gedicht Post 1 heißt es: Wenn die Erde festgetreten ist, setzt die Erinnerung ein ... Das heißt aber auch, dass das, was ich mit dem Dichter betrachte, Geschichte offenlegt, und wenn schon nicht emphatische Geschichte, so doch ein Gewordensein, dem ich nachsinnen kann, und vielleicht ist dieses Nachsinnen das, was Stadler mit dem Heimweg meint.
Ich bin kein religiöser Mensch, habe keine Vorstellung von Gott und Göttern jenseits der verschiedenen Denkmodelle. Und jedes davon leuchtet mir mehr oder weniger ein. Hinter den Dingen liegen die Dinge, denke ich meist. Aber es lohnt sich, sie unter dem Blick durchscheinend werden zu lassen, so dass die Dinge einander kommentieren. Und genau das geschieht in den Gedichten Kochs. Die Welt ist Schöpfung. Von wem auch immer.
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