Grenzaufklärer Schoschies
Obwohl bereits 1994 erschienen, damals als Artikel für den Spiegel, ist Marie-Luise Scherers Reportage Die Hundegrenze kein bisschen angestaubt oder von sonstwelchen Alterserscheinungen geprägt. Die Sprache der Journalistin ist derart spröde auf den Punkt, dass sie völlig zu Recht zu einem Klassiker ihrer Art, das heißt Literatur, geworden ist. Thematisch spannt Scherer einen Bogen um Alf, dem letzten Überlebenden der Hundestaffel an der innerdeutschen Grenze, von den Achtzigern bis in die Neunziger Jahre. Wie sie Mensch, Tier und Geografie des "Todesstreifens" südlich Lübecks bis ungefähr Ratzeburg schildert, ist von einer geradezu unheimlichen Ferne beseelt. Scherer entwickelt ein Gespür und Gefühl für die Sprache dieser Region, der Namen, Orte und Berufe beziehungsweise Ränge innerhalb einer strengen bürokratischen Hierarchie, dass man letztendlich mit einem verdichteten Kosmos konfrontiert ist. Scherer ist interessiert an Sprache, und dass dieser Text gerade nicht fiktiv ist, macht ihn so dominant gut.
Man verfolgt nicht nur die knapp umrissenen Schicksale der Grenzbewohner, Angestellten und "Hundebeschaffer" in atemberaubenden Miniaturen, man bekommt vollkommen nüchtern die "Komposition" einer solchen "Hundegrenze" mitgeteilt, wie sich in einem Abschnitt der Hundekenner ausdrückt: Melancholiker neben Choleriker usw zur lückenlosen Ergänzung einer vierbeinigen Zone, die dennoch genau 50 Zentimeter zwischen den anschlagenden Wachhunden an den Laufleinen lässt. Und als Clou der Reportage schafft es genau ein Hund, ein entlaufener "Westler" aus Lübeck, völlig wider Erwarten durch dieses Loch, auf der Flucht vor "dekadentem, bourgeoisen" BRD-Feuerwerk, zu schlüpfen, um von den Hundestafflern aufgefangen und zum tierischen Politikum zu werden. Jahre vor "Problembären" und mitten in einer paranoiden Eiszeit lässt Scherer ein (nicht-fiktives) Land zu Wasser, das die Apokalypse zu beinhalten scheint, bewacht, verwüstet und von dienstbaren Tieren gehütet, die quasi-psychotisch als lebende, gewalttätige Alarmanlage vor sich hinvegetieren bis ihnen vom Einschlag der Jahreszeiten der sprichwörtliche Garaus gemacht wird.
Scherer schreibt folgendermaßen (man hätte jeden Absatz auswählen können) in dem nur wenige Seiten starken Text, komplettiert von Fotos und einer kurzen Laudatio von Paul Nizon:
Stallarbeiter Benno Nehls hatte sie in der Abferkelei Charlottenthal, einer Nebenstelle der LPG Hoppenrade-Wohlstand, aufgelesen. Nehls zog gerade die Rotlichtlampe über ein Ferkelnest, als die trächtige Hündin sich vorbeischleppte. Stallhygienisch war das eine Katastrophe und für Nehls dazu von persönlicher Peinlichkeit. Ein weiblicher Lehrling der Fachrichtung Schweineproduktion mit Abitur hatte ihm über Mittag die Ferkelwache überlassen, eine Tätigkeit über seiner Kompetenz. Das Mädchen inspizierte einen frischen Wurf, während Nehls vor den Buchten Stroh anfuhr. Sie sagte, er müsse sie kurz vertreten, weil ihr übel sei.
[...]
Was den Melker in Müdigkeit abtauchen ließ, gab dem Viehzerleger Pandosch erst Elan. Nichts regte so sehr seine Lebensgeister an, wie in nebenerwerblichen Absichten über die Dörfer zu fahren. Und mit demselben Schwung, mit dem er am Tage das Beil durch die Viehhälften trieb, kam er zu Nehls in die Küche getreten. Nach dem scharfen Milchgeruch des Vorraumes, wo die Arbeitskleider des Melkers hingen, empfing ihn hier das Duftgemisch eines ungleichen Feierabends. Die Frau hängte Windeln auf, während die Waschmaschine mit einer weiteren Ladung im Schleudergang hüpfte. Auf dem Tisch stand noch das Abendbrot; das Gurkenglas, die herzhaften Würste im Papier, der Kaffeebecher der Frau und die Bierflaschen des Mannes, darüber lagen die Schwaden seiner Karozigaretten.
Dieses Buch in der Paperbackreihe von Matthes und Seitz ist ein Must-have. Es tut außerdem gut, mal wieder Bücher in der Hand zu haben ohne Plastik am Umschlag. Trotz einigermaßen vieler Übertragungsfehler der etwas eiligen Produktion der Verlagsreihe, ist Marie-Luise Scherers Die Hundegrenze ein großartiger Höhepunkt im Schaffen einer beispiellosen Stilistin und sollte Standardleseausrüstung sein.
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