Ein Hohelied der Autonomie des Individuums
Was der C.H. Beck Verlag da gemacht hat, ist äußerst verdienstvoll. Nach dem Roman „Ich hielt meinen Schatten für einen Andern und grüßte“, legte er 2011 den Gedichtband „Idylle, rückwärts“ auf. Der Band enthält eine starke Auswahl von Drawerts lyrischen Texten aus den letzten drei Jahrzehnten, und der Verlag hat dieser Auswahl genügend Raum geschenkt. Sie erstreckt sich über ca. 270 Seiten und ist mehr als nur ein Einblick in die verschiedenen Schaffensphasen.
Ziemlich genau in der Mitte findet sich unter dem Titel: „Die Lust zu Verschwinden im Körper der Texte“ eine Sammlung instruktiver Essays zur Dichtung und zum Gedicht. Sie alle kreisen meiner Meinung nach um das Thema Freiheit. Freiheit der Kunst, Freiheit in der Kunst und Freiheit angesichts der Kunst.
Mich hat die Sammlung eine Zeitlang beschäftigt, und wie es aussieht, wird sie es auch noch eine Zeitlang tun.
Zu beobachten ist nämlich, wie sich eine Sprache und mithin ein Bewusstsein über die Jahre an den gesellschaftlichen Konstellationen reiben und so bei sich selbst bleiben und sich gleichzeitig lösen und wieder zu sich zurück finden können. Drawerts Schaffen ist ein Hohelied der Autonomie des Individuums, singt aber auch das Lied ihrer Bedrohung. Und jene Bedrohung, wechselt mit den gesellschaftlichen Umständen ihre Gestalt. Die Arbeit des Individuums, die darin besteht, sich Autonomie Integrität zu erhalten, bleibt über gesellschaftliche Umbrüche hinaus gleich intensiv.
Im Gedicht „Zwischenzeitlich“ hört sich das so an:
„Wenn meine Sprache, meine Gedanken, einer/ Verfehlung gleich, abnabeln vom Sinn,/ Wortkrank sich verlieren, versanden, /wenn mein Raum, also das Rechteck/ Schulter Schulter. Fuß Fuß, einem, versehentlich, falschen/ Ausdruck erliegt, dann werde ich abscheiden,/ Im Schnee stehen und mir nachwinken, bis der Arm erfriert,/ Blau das Gesicht von des Scheiterns schneidendem Wind.“
Jenes sich von sich selber entfernen, scheint mir ein Grundmotiv in Erfahrung und Literatur der sterbenden DDR zu sein.
Zwanzig Jahre später sind die Entfremdungserfahrungen andere und auf eine gewisse Weise handfester: „ … die Geburtstagsgrüße vom ADAC// wie jedes Jahr die ersten von allen./ (Dann schreibt der Reifenservice,/ dann meine Kasse.) - /Man kommt einfach nicht los// von seiner Anwesenheit/ in den Computern der anderen./ ...“
Den Band beschließen einige neue Gedichte, darunter der grandiose Zyklus „Matrix America“. In dieser Beschreibung einer New York-Erfahrung schnürt scheinbar alles Wissen und alle Geschichte auf einen Punkt zusammen, die Entfremdung und das Wiederfinden, was aus der Erkenntnis der Entfremdung resultiert.“ … // ich werde, ab morgen, weiterglauben, daß ich, wenn ich, ab morgen, weiterspreche,/ die Welt, ab morgen, weiterhin verändern werde,/ weil ich, ab morgen, weiterhin glauben werde,// daß die Welt, ab morgen, weiterhin verändert,/ was in der Welt, ab morgen, weiterhin ist.“
Für mich hatte die Lektüre etwas Rauschhaftes, aber der Rausch war keinesfalls vernebelnd, eher klärend. Dem Zyklus sind im Übrigen kleine Schwarzweißreproduktionen der New York- Fotos von Ute Döring beigegeben, die Lust darauf machen, die Bilder größer und auch farbig zu sehen. Einige davon sind mit einem Essay Drawerts in der Dresdener Literaturzeitschrift Ostragehege (Nr. 62) abgedruckt.
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