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Kritik

33 Mal Zuhause

Hamburg

 „Das Haus roch nach Schwefel, schmutziger nasser Wäsche, Zigaretten, Whiskey, Schädlingsbekämpfungsmittel, verdorbenem Essen.“ 1944 ist Lucia Berlin acht Jahre alt und zieht mit ihren Eltern nach El Paso, Texas. Es ist die sechste Stadt für die künftige US-amerikanische Schriftstellerin, die in den funktionalen Schrankbetten der Zeit schläft und deren Vater in den Minen arbeitet.  Fünfzehn Jahre später ist es ein „kistenartiges, kleines Haus, umgeben von Salbei und zartlila Tamariske“, das Lucia Berlin mit ihrem zweiten Mann Race Newton und ihren Söhnen bewohnt und das in der Beschreibung ein so schönes wie einfaches Bild für den/die Leser*in entwirft.

Ob beim Säumen von leuchtender Wolle für Kinderponchos oder bei Aushilfsjobs in Krankenhäusern und Gefängnissen, bewegt tritt uns das frühe Leben der Autorin in Form von autobiographischen Miniaturen im Erzählband „Welcome Home“ gegenüber. Eine städtische Wohnung im 2. Stock mit einem Fußabtreter und dem Schriftzug ‚Home Sweet Home‘ – so einen Ort bewohnte Berlin wohl nie. Doch auf paradoxe Art scheint dieses wiederholte Umziehen – 33 Zuhause-Adressen zählt Berlin in einer Liste am Ende des ersten Teils auf – , diese Suche nach Arbeit und Glück den Blick der Amerikanerin auf die Orte ihres Aufenthalts zu schärfen. In wenigen Sätzen werden Städte wie mit großen Strichen skizziert, einige Plätze und das eigene Zuhause aus dem Großen heraus entwickelt und mit verblüffenden Details ausgestattet. Nehmen wir die Tamariske aus dem anfänglichen Zitat: Die ist nicht nur ein blühender rosa Baum, sondern zartlila. Eine Decke ist nicht nur eine Holzdecke, sondern eine „Stakendecke aus Holz“, Schweine sind „groß wie Autos mit gemeinen kleinen Menschenaugen“ und Mobiliar im texanischen Kindheitshaus wird sogleich mit seiner Geschichte auf der Rim Road versehen.

Ebenso verfährt der Text mit Personen, die mithilfe sinnlicher Wahrnehmungen und überraschender Attribute beschrieben werden. Lucias Mutter liest, sich das Weinen verkneifend, im pfirsichfarbenen Slip Krimis, der alte Mr. Johnson tapeziert die Wände seiner Holzhütte in Montana so mit Zeitschriften, dass er tagelang die nächste Seite an einer anderen Stelle suchen muss und Lucias erster Ehemann Paul möchte ordnungsbesessen Lucias Körperteile neu anordnen und abflachen.

Bei aller Präzision und zurecht gelobter poetischer Genauigkeit gibt es dann doch einige Formulierungen, die ein wenig schief daherkommen. Können sich Kiefernnadeln „seidenweich“ anfühlen, und inwiefern besitzt menschliche Haut die Fähigkeit, von „Textur und Temperatur“ wie „äthiopisches Fladenbrot“ zu sein? Können Ketten von Minengeräten im Schnee an ein glitzerndes Spinnennetz erinnern? Es sind Vergleiche, die aufhorchen lassen; vielleicht sind sie schief, vielleicht aber auch Ausdruck einer sehr besonderen Sicht auf die Welt.

Reicht es, dass Erinnerungen quantitativ reichhaltig sind und von einem ereignisreichen Leben zeugen, um aufgeschrieben und veröffentlicht zu werden? Nein. Wenn sie aber so überraschend und poetisch wie bei Lucia Berlin daherkommen, entpuppen sie sich als schon fast literarische Erzählungen eines in seiner stetigen Suche sehr modernen Lebens.  

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Nach der fulminanten Wiederentdeckung von Berlins Schreiben zwölf Jahre nach ihrem Tod landeten ihre Kurzgeschichten 2016 auf der Spiegel-Bestsellerliste. Dieses Jahr veröffentlicht der Kampa Verlag gleich zwei  Werke, die der Sohn der Autorin aus ihrem Nachlass zusammenstellte: „Welcome Home. Erinnerungen, Bilder und Briefe“ und 22 unveröffentlichte Kurzgeschichten in „Abend im Paradies“.

Lucia Berlin
Welcome Home / Erinnerungen, Bilder und Briefe
Mit einem Vorwort von Jeff Berlin / Aus dem amerikanischen Englisch von Antje Rávik Strubel
Kampa
2019 · 208 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
978 3 311 10011 9

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