Tupfer von hängenden Gärten
Man hat es in Bezug auf Tomas Tranströmers diesjährigen Literaturnobelpreis nicht umsonst bemerkt: So viel Preis für so wenig Text. Die Lakonie der Texte ist tatsächlich kaum zu überbieten, sowohl, was das einzelne Gedicht, als auch, was die Zyklen und Gedichtbände Tranströmers angeht. Sein jüngster Band Das große Rätsel, 2004 im Original und im Jahr darauf in der deutschen Übersetzung von Hanns Grössel (der bereits die Ausgabe der Sämtlichen Gedichte 1997 und der Jugendgedichte 2011 verantwortete) bei Hanser erschienen, füllt keine 80 Seiten. In zweisprachiger Ausgabe, wohlgemerkt. Das formale und sprachliche Register ist ebenfalls konzentriert in der kleinsten Dimension: mit Ausnahme der fünf eröffnenden Gedichte (deren längstes neun Verse misst) versammelt Das große Rätsel Haikus, filigrane und introvertierte Dreizeiler, in denen eine sanfte Stimme zu sich selbst spricht.
Diese feine Stimme spricht, wie es der Gattung ziemt, hauptsächlich über die Natur. Aber bereits die extreme Kürze beginnt, den Naturraum zu verzerren: großes Gewicht fällt dem einzelnen Wort zu, dem Namen, der Setzung eines Anhaltspunktes. Größeres Gewicht aber dem Weißraum, der Ergänzung des Lesers, der dafür sorgen muss, dass sich aus den Punkten und Namen eine Landschaft auffaltet. So herrscht atmosphärische Freiheit, vor der das Wort nur den Torhüter gibt: und der ist durchaus nordisch, durchaus schmallippig, durchaus mit einem Unterzug von Religiosität.
Diese Religiosität kann als eine der Anker gewertet werden, an denen die skandinavische Landschaftsmalerei aufgehängt ist und entlang derer sie ins Metaphysische verweist. Dazu muss es nicht immer in aller Deutlichkeit heißen: „Die Kirche atmet Gold.“ oder „Gott wusste davon.“ Zwischen all den Möwen, Meeren, Wäldern und krautigen Pflanzen bleiben immer Lücken, in denen plötzlich von Tiefe die Rede ist, vom Tod, von Begriffen, die einen strengeren Sog zur Bedeutung entfalten als etwa Ziegen oder Schleppdampfer. Aber durch die Knappheit wird es durchlässig und durch die Knappheit wird das Auge deutlicher auf die Stellen gerichtet, wo die Bereiche des Menschen und der Natur sich überschneiden, wo das große zivilisatorische Differenzziehen abebbt und ein Ende nimmt: dann kommt ein Wind „aus der Bibliothek des Meeres“. Der Band schließt mit dem Gedicht: „Menschenvögel. / Die Apfelbäume blühten. / Das große Rätsel.“ Es ist einer der feinsten Züge des Bandes, dass das titelgebende Rätsel nicht in der Natur oder im Menschen monolithisch aufgerichtet wird, sondern sich in der porösen Schnittstelle zwischen den beiden einnistet.
Die Knappheit macht sich gerade auch dort deutlich, wo sie scheinbar aufgehoben wird: in der Wortwiederholung. Das Haiku „Renhirsch im Sonnenglast. / Die Fliegen nähen und nähen / den Schatten am Boden fest.“ entwickelt eine Kraft des Immergleichen, um die herum sich geradezu die Zeit krümmt. Anderes aber wirkt fahl: nicht nur anstrengungslos durch die Kürze, sondern auch aufwandslos. Da erhebt der Kitsch, der immer noch behauptet, es schliefe ein Lied in allen Dingen, sein grauses Haupt. Etwa: „Das braune Laub / ist genauso kostbar wie / Schriftrollen vom Toten Meer.“ Man könnte hierauf eine lange Diskussion anfangen, aber die Wahrheit (sonst ist mir keine bekannt, wie es in den goethe-schillerschen Xenien bestmöglich heißt) bleibt doch: ist es nicht. Es wird etwas besser, wenn man zur Linken ins Original schaut: da besteht nämlich der letzte Vers aus nur einem Wort, „Dödahavsrullar“. Daran erweist sich auch, was man kaum glauben kann: auf Schwedisch sind die Gedichte noch kürzer.
An einigen Stellen aber bricht die Stadt ins Land, bricht auch das Land in die Stadt, brechen sie übereinander her. Hier und da mag dieser Bruch harsch wirken, aber zuweilen staunt man nur, mit welcher Sparsamkeit Gleitbewegungen erzeugt werden, die auch aus dem zyklischen Umfeld resultieren. (Es empfiehlt sich, zumindest einmal den Band am Stück durchzulesen, was ja keine „große Sache“ ist.) So ziehen hier gleich drei Charakteristiken und Bereiche von Stadt Schlieren ineinander: „Ein Lamakloster / mit hängenden Gärten. / Schlachtengemälde.“ Die Bereiche verharren in der offensten Beiordnung: da herrscht (irgend)ein delikater Bezug und eben keine Gradation. Es ist, als schliche sich das Holistische der Natur in diese komparative Urbanistik ein: die Ausschweifung des hängenden Gartens, die Brutalität der Schlacht gehören ebenso zum Lamakloster wie die Flechte zum Stein. Langsam bewegen sich die Worte: aber in jedem Vers herrscht eine geradezu laszive Üppigkeit der Vokabel, die untergründig strömt und den Boden auswäscht, bis irgend ein Fundament wegknickt und die Lücke sich trichterförmig in die Fassade reißt. So kann es einem gehen vor diesen knappen Bildern und was dann entsteht, ist umso wundersamer. Naturgemäß aber herrscht im Großen Rätsel auch das große Problem der Verknappung: es kann einem auch einfach nicht so gehen. Manche Haikus stehen sprachlos und kalt, mir zumindest. Aber man muss sich als Leser dafür nicht zwangsläufig die Schuld selbst zuweisen, nur weil Tranströmer gerade den Nobelpreis bekommen hat. Das wäre nämlich eine Schande für diesen Preis, in einer Variante, über die nicht so viel gesprochen wird wie über all die anderen.
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