Mit klarem Pinselstrich geschrieben
Reduktion ist ihre besondere Stärke. Neunzehn Zeilen hat das längste, fünf Zeilen das kürzeste Gedicht des neuen Bandes „Türkismäander“ von Irène Bourquin. Die einzelnen Zeilen wiederum bestehen meist aus kaum mehr als vier Worten, oft sogar bloß aus einem einzigen. Bourquins Reduktion beschränkt sich indes nicht auf formale Kriterien, denn das lateinische reducere bedeutet tatsächlich nicht nur „zurückführen“, sondern auch: „wieder einsetzen“, „ins Gedächtnis zurückrufen“. Und genau dies sind Bourquins Gedichte, die auf ihren Reisen durch Island, Irland und die Bretagne entstanden: Besinnung aufs Wesentliche, Wiedereinsetzung des Elementaren, Skizzen bleibender Eindrücke.
In ihrem meditativen Gestus erinnern einzelne Strophen nicht von ungefähr an japanische Haiku oder Tanka: „Im Heckengeflecht / wogender Hügel / Schafgestöber / weisse Flecken / schwarz maskiert“. Das schreibende Subjekt ist zurückgenommen bis zur Abwesenheit. Da ist nichts rein symbolisch vergegenwärtigt, nichts kommentiert oder durchgrübelt, im Gegenteil: Bourquin schält sinnlichste Konturen aus den Momentaufnahmen von Landschaften oder Naturszenen, wobei sie die Farben und Dinge zur luftleichten Masse verdichtet.
Der Augensinn ist der wichtigste: Farbadjektive fungieren als Leitmotive und tauchen alles in einen berauschend bunten Wirbel: schattengrün, lavasandschwarz, kaltblau, bleihell tritt die Natur aus den Buchseiten hervor. Plötzlich ist die vermeintlich karge, steinige Landschaft Islands nicht öde, sondern vielgliedrig funkelnd, physisch geradezu spürbar. Aufgrund der Kürze und Reduktion blitzen die Umrisse umso schärfer auf, wie Mitschriften eines Blicks, adamitische Benennungen, atemlose Notate aus dem unmittelbaren Erleben, staunend herausgestammelt, vor jeder Kondensierung in komplexere Syntax: „Fjordfinger / silbern / unter dem Nebel / schnatternd / schaukelndes Schwarz / weiß gesprenkelt / ein Lichtstrahl / trifft / das letzte Gehöft“.
Es soll nicht verschwiegen werden, daß das eine oder andere Gedicht vielleicht ein wenig zu stereotyp und sorglos daherkommt. Dennoch darf von dieser Form auf der anderen Seite kein Aufriß des Weltgebäudes erwartet werden: Irène Bourquin versteht es meisterlich, kalligraphischen Schwung ins Gedicht zu bringen, das hat Limitationen zur Folge, öffnet aber gleichzeitig den Text für die weiten Räume der Imagination.
Beigegebene Anmerkungen verweisen auf den konkreten Ort, der jeweils zum Gedicht kondensiert wurde, und liefern nicht uninteressante Hintergrundinformationen. Allerdings tragen diese selten zum Verständnis bei. „In der Altstadt von Quimperlé an der Südküste der Bretagne fliessen die Isole und die Ellé zusammen und bilden die Laïta, ein von den Gezeiten beeinflusstes, schiffbares Gewässer, das die Stadt auch zum Hafen machte. Die „Ville basse“ war das aristokratische und religiöse Zentrum von Quimperlé“, lautet beispielsweise eine dieser Anmerkungen, aber das Gedicht, auf das sie sich bezieht, käme zweifellos ohne Erläuterung aus: „Sonnengewebe / im Wasser / treiben die Enten / paddelt die Möwe / dunkelgrün / schlängelnde Pflanzen / fließendes / Jetzt“.
Für sich genommen besitzen alle Gedichte des vorliegenden Bandes noble Einfachheit, klare Kontur, exakte Beobachtung, Liebe zum Sichtbaren. Liest man die Gedichte jedoch in schneller Abfolge, stellt sich eine gewisse Beliebigkeit ein, weil das Besondere des jeweiligen Ortes nicht mehr als das Besondere genau dieses — und keines anderen — Ortes zu erkennen ist. Deshalb empfiehlt es sich, niemals mehr als drei oder vier Gedichte auf einmal lesen und den Dingen ihren Hallraum zu belassen.
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