Kolumne

U.a. per E-Mail in Norwegen

In diesen Tagen findet man die Auffassung verbreitet vor, in Norwegen (und allgemein in Skandinavien) sei alles besser. Gesundheitswesen, Bildungssystem, Sozialpolitik und sowieso:  immer hyggelig da oben. Dabei gibt es genauso Dinge, die nicht gut laufen. Norwegen ist z.B. eine von nur drei Nationen, die noch heute kommerziellen Walfang betreibt (und staatlich fördert).  

Im Oktober bekanntlich wird Norwegen Gastland der Frankfurter Buchmesse sein und damit  in einem Bereich Präsenz zeigen, den sie zu beherrschen scheinen, diese Norweger*innen. Die Literaturszene wäre nämlich wiederum eine Sache, die –dem Ersteindruck nach- in Westskandinavien perfekt funktioniert. Maja Lunde, der omnipräsente Knausgård, Tomas Espedal und Genrespezialist Nesbø, sie haben ihre Anhängerschaft, weltweit und hierzulande. Die Anzahl gefragter Autoren ist bemerkenswert, für ein 5-.Millionen-Einwohner-Land sowieso. Auf der offiziellen Buchmessegastlandwebsite werden zudem in Deutschland wenig Gelesene (z.B. 10 spannende norwegische Schriftsteller, die Sie sich dieses Frühjahr ansehen sollten!) präsentiert. Die Frage stellt sich also, ob man es mit einem gelobten Land zu tun hat, wenn es um Literatur und Literaturförderung geht. Ich persönlich kann leider kein Norwegisch. Und das erschwert die Recherche ungemein.

Man kann dann zwar ein bisschen in den Archiven auf den Onlineseiten der großen Zeitungen stöbern, denn passagenweise versteht man die Texte, aber viel Ertrag lässt sich nicht gewinnen. Immerhin erfahre ich, dass Jenny Erpenbeck vom Morgenbladet als Nobelpreiskandidatin gehandelt wird, was allerdings an der Fragestellung vorbeiläuft.

Es ist klar, dass ich Experten der nordischen Literaturszene brauche, soll es klappen mit dem Einblick. Ebenso offensichtlich ist, wer das sein könnte: Redakteure von Literaturzeitschriften, von denen gleichzeitig zu hoffen ist, dass sie enthusiastisch und idealistisch genug sind, eine Mail aus Deutschland zu beantworten, die fragt, ob sie bitte mal, gegenleistungslos, ein paar Fragen (auf Englisch natürlich) bearbeiten könnten; auf die Redaktionen der großen Printmedien kann man sich da ja nicht verlassen -was sich übrigens nochmal bestätigt hat.

Jetzt könnte es hier zu Ende sein, hätte nicht Merete Røsvik auf eine solche E-Mail reagiert. Merete ist Chefredakteurin von Prosa, Norwegens größtem Literaturmagazin, das im Übrigen einen exzellenten Internetauftritt mit vielen online lesbaren Artikeln besitzt. Prosa ist eine Tidsskrift for sakprosa und gehört dem Verband der Norwegian Non-Fiction Writers and Translators. Røsvik schreibt außerdem als Kritikerin für Klassekampen, eine Tageszeitung, deren Auflage sich –kein Scherz- innerhalb der letzten zehn Jahre verdoppeln konnte.

Zwei Tage nachdem ich meine Mail schicke, in der ich ihr erzähle, was ich vorhabe –mehr über die norwegische Literaturszene erfahren (wie´s so läuft, welche Autoren*innen…) und ob es Gründe gibt, dass die ihr entstammenden Autoren zahlreich und für den Weltbuchmarkt relevanter sind, als z.B. deutsche; und ob diese deutschen in Norwegen wahrgenommen werden- und frage, ob ich dazu etwas fragen dürfte, antwortet sie „na klar“. Ich übersende eine Seite Fragen und wieder zwei Tage später habe ich bereits eine Datei mit ausführlichen Antworten im Postfach.

Die Deutschen und Knausgård  

Im Frühjahr fand in Oslo erstmals ein deutsch-norwegisches Literaturfestival statt, bei dem Scharen von deutschsprachigen Autoren lasen. Das Tysk-norsk litteraturfestival stand unter dem Motto „Auf dem Weg nach Frankfurt.“, war aber kein (oder nicht nur) freundschaftlicher  Gegenbesuch, bei dem norwegische Schriftsteller ihren Landsleuten deutsche Kollegen vorstellten, sondern eine Promoaktion, die nötig ist. Denn –wie Røsvik erzählt- spielt Literatur aus Deutschland nicht wirklich eine Rolle. Übersetzte Literatur stamme zu hohen Prozentzahlen aus dem Englischen und Amerikanischen. „Aber vielleicht verändert sich die Situation zum Besseren. Jenny Erpenbecks Romane, übersetzt von Ute Neumann, haben viel positive Aufmerksamkeit bekommen.“ Das Morgenbladet steht also nicht alleine da, war ein erster Rechercheerfolg.

Auch einer mit viel Aufmerksamkeit ist bekanntermaßen Karl Ove Knausgård. „Obwohl viel genug über ihn berichtet wurde, muss ich fragen, wie die Geschichte nach Min Kamp weiterging.“ Wie sieht man ihn?, frage ich.

„Seine Reputation wächst und wächst seit Min Kamp auf der ganzen Welt gefeiert wird. (…) Er wird immer noch oft interviewt, zitiert und diskutiert, und wurde Thema einiger wissenschaftlicher Studien. (…) Henrik Keyser Pedersen von der Universitätsbibliothek in Oslo arbeitet an einer kompletten Bibliographie von sowohl von Knausgård als auch über ihn Geschriebenem.“ Knausgårds Publikationen erhielten immer starke Beachtung, sagt Merete. Min Kamp wurde neben vielen positiven Besprechungen vereinzelt negativ besprochen. Es habe jedoch eine Debatte über die „fehlenden“ moralischen Grundsätze der Reihe gegeben, die ja, was ich interessant fand und finde, in Deutschland komplett ausblieb.

Bis heute gibt es, angefeuert von neuen autofiktionalen Werken anderer Autoren, diese Diskussion um etwas, für das der Begriff „Realitätsliteratur“ erfunden wurde. Also Romane mit (scheinbar) realitätsnah dargestellten Personen, die in Norwegen boomen; vor drei Jahren z.B. ein Werk von Vigdis Hjorth. „Die Tendenz sich auf das Privatleben der Autoren zu fokussieren, wurde im Rahmen der Realitätsliteratur sogar noch stärker. Das ist meiner Meinung nach eine intellektuelle Sackgasse, auch wenn ethische Fragen natürlich gestellt werden müssen.“ Außerdem nervt Røsvik die Fokussierung von Medien, Literaturfestivals und Buchhandelsketten auf wenige bekannte Schriftsteller, was man aber irgendwoher kennt.

Ich: „Und was ist, findest du, besonders positiv?“

Bibliotheken und Normabweichungen

„Ich schätze die Bibliotheken und ihren täglichen Einsatz, zum Lesen anzuregen. Zusätzlich sind sie lebendige, kostenlose Treffpunkte, besonders für Rentner oder Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien mit begrenztem Wohnraum. (…) Viele Bibliotheken machen es jetzt sogar möglich, sie außerhalb der Öffnungszeiten zu besuchen: man kann seinen Bibliotheksausweis als Schlüssel benutzen! Dieses vertrauensbasierte Prinzip begründet in gewisser Weise in sich selbst das hohe Maß an Vertrauen, für das die skandinavischen Länder bekannt sind.“ Das hört sich traumhaft an.

Und ich vermute gegenüber Merete, dass Unkonventionalität auch allgemein auf dem Buchmarkt eine größere Chance hat, wage die Prognose: norwegische Publikumsverlage trauen sich mehr. Man denke an die speziellen Bücher, ihre Form von Espedal und letztlich auch Knåusgard, die deutlich vom derzeit in Großverlagen verlegten typischen deutschen Standardroman abweichen. „Ich bezweifle, dass norwegische Verlage allgemein offener gegenüber experimenteller Literatur sind“, meint sie allerdings, „,aber sie haben Raum etwas zu versuchen, denn der Norwegische Kulturrat kauft jedes erzählende Buch mindestens 773 Mal. Das nennen wir Innkjøpsordningen, auf Deutsch vielleicht so etwas wie Einkaufsverordnung oder Einkaufsvereinbarung. Ich glaube, dass das auch bei Min Kamp der Fall war: Gulliksen (Lektor und Autor; Anm. d. Verf.) brachte den Kulturrat dazu die vier Bände (im Deutschen sechs; Anm. d. Verf.) als vier eigenständige Werke zu kaufen, nicht als eines. “ Das machte dann  3.902 sichere Verkäufe.

Zu Geir Gulliksen erzählt Røsvik noch anderes Spannendes; er, der  nicht nur Lektor im Verlag Oktober, sondern selbst Autor ist, sei sowohl „(…) entscheidend gewesen in der Anregung Knausgårds, dieses extrem ambitionierte, moralisch problematische –und umfangreiche!- Projekt anzugehen (…)“ als auch „(…) wichtig für eine Reihe anderer gefeierter norwegischer Autoren.“

Eine Schlüsselperson der Szene also. 

Autoren und ihre Texte

Ich frage Merete noch einiges, besonders wichtig ist mir davon, welche Schriftsteller  lesenswert und zu wenig beachtet sind; sie antwortet mit diesem schönen Satz:

„Ich glaube nicht daran, dass ein paar Autoren am wichtigsten sind, ich glaube, dass viele Autoren wichtig sind - für verschiedene Leser mit verschiedenen Leben und Erfahrungen.“

Für sie persönlich sei das Merethe Lindstrøm, weitere Favourites wären Anne Oterholm, Carl Frode Tiller; in der Lyrik Nils Christian Moe-Repstad und Cecilie Løveid; in der Non-Fiction Marte Michelet, Jan Grue und Aage Borchgrevink. „Ansonsten würden wohl die meisten Hjorth, Solstad, Knåusgard und Fosse nennen.“ 

Um diese Autoren und ihre Verlage zu unterstützen, lässt sich der Staat (neben der „Einkaufsordnung“) einiges einfallen. Dag Solstad hat sich zum Beispiel eine lebenslängliche, steuerfreie Staatsrente samt Wohnung verdient, Bücher werden allgemein nicht besteuert und es gibt mit NORLA (Norwegian Literature Abroad), eine Organisation, ein Zentrum, das sich mit der Vermarktung norwegischer Literatur im Ausland beschäftigt.

So förderte NORLA z.B. auch (die Übersetzungen für) Ausgabe 275 der „[die] horen“, die unter dem Titel „Das Gras hinter dem letzten Haus“ als Ziel angibt, neue Literatur aus Norwegen präsentieren zu wollen und natürlich pünktlich zur Buchmesse erscheint. Eine passende Lektüre für mich also.

Die Anthologie hat den Anspruch, umsichtig ein Gesamtbild abzulichten, wozu, neben rund vierzig Textbeiträgen, zwei von Herausgeber Uwe Englert geführte Interviews dienen.

Gleich zu Beginn spricht Englert mit den profilierten Kritikerinnen Marta Norheim und Ane Farsethås über den Ist-Zustand der norwegischen Literatur. An den detaillierten Fragestellungen des Herausgebers erkennt man, dass er, Experte der skandinavischen Literaturen, zu einer eigenständigen Ausleuchtung durchaus fähig wäre, sich aber nicht so wichtig nimmt, zurückhält, worauf schon ein nicht-ausuferndes Vorwort hinweist.

Kernthesen des Gesprächs sind, dass NORLA maßgeblich für den internationalen Erfolg, die Einkaufsordnung für die Risikobereitschaft der Verleger ist und Schriftsteller viel präsenter in den Medien seien als in den angelsächsischen Ländern. Gute Literatur gebe es eigentlich schon immer, nur jetzt sei das internationale Echo größer. Den undurchsichtigen Begriff der „Realitäts- bzw. Wirklichkeitsliteratur“ sollten wir im Deutschen keinesfalls einführen, rät Farsethås und Norheim findet es skandalös, wie wenige Romane sich mit Erdöl, dem Schmierstoff der norwegischen Gesellschaft, beschäftigen. Sie sagt außerdem:

„In Norwegen können wir zwei Dinge: Wintersport und Literatur!“ Und schließt hinsichtlich des Ehrengastdaseins, es sei doch sympathisch, dass keine Glanzbilder gefördert würden, sondern durch die Literaturinhalte Scham, Schuld und Elend das Gegenteil.

Ich bin zufrieden. Die beiden Journalistinnen antworten nicht bloß intelligent und streitbar, sondern erzählen vieles, was ich aufgrund meiner Arbeitszimmermethoden (dank v.a. Merete) bereits weiß. Weiteres bestätigen die kommenden 250 Seiten.

Auf ihnen werden gemischt Prosa und Lyrik präsentiert, auch einige Seiten Kunst, die wiederum von Essays begutachtet wird.

Im Vorwort –klug und spannend- erklärt Uwe Englert Zusammenhänge zwischen der norwegischen Staatsgeschichte und der Stellung sowie den Inhalten der Literatur. Insgesamt ist eine vielfältige, gut austarierte, unglaublich umfangreiche Sammlung gelungen, die man schnell gelesen hat. Nur vereinzelt fallen stärkere Niveauunterschiede zwischen nebeneinander gestellten Texten auf. Die Lust auf „Realitätsliteratur“ (Ich will den Begriff das letzte Mal benutzt haben!) ist schon deutlicher und ich bin nicht verwundert.

Die zahlreichen Ich-Erzähler sind mutig. In Joakim Kjørviks Kurzprosa Wer mir nicht aus dem Kopf geht –ein guter Text- erfährt man nebenbei, wie eine WG-Mitbewohnerin ihren Vibrator zu säubern pflegte. Ich persönlich traue mich hingegen nicht einmal, einen Text ähnlichen Aufbaus über die Komik von Fast-Beziehungen oder Annäherungsversuchen zu schreiben, weil ich mir unsicher bin, wie passend das ist, ob ich jemanden verletzen, was das bedeuten könnte etc. Und, jaja, Erzähler ist nicht Autor, logisch, aber andererseits wissen wir auch, wie´s läuft.

die horen 275 und Werbung

Jeden Morgen krieche ich aus dem Meer von Frøydis Simonsen: der Text, der mich am meisten beeindruckt, weil er stilistisch und formal viel wagt und brilliert. In Bungalow schafft es Inghill Johansen trotz knapper Form und Reduktion auf ein einzelnes Gebäude weite, weite Räume aufzustoßen, die mystisch, teils emotional geladen auskoloriert sind. Der Blick auf die Mutter wirkt unversöhnlich und hart, wendet sich dann der eigenen Person zu und stellt sich schließlich anders dar. Jon von Jan Dale lässt einem nach dem Lesen etwas ratlos, erweist sich aber als ziemlich vielschichtig, aufgeladen, nachhallend; wie das gute Literatur macht. Tina Åmodt steuert Baustellenprosa bei. Sie zu lesen ist nicht nur interessant –weil man vieles wiedererkennt-, wenn man, wie wir momentan, eine Baustelle zuhause hat; ich sollte vielleicht meinem Vater den Text markieren. Das soziale Milieu, das Åmodt beschreibt, die typische Arbeiterklasse, wird –auch in der norwegischen Literatur- zu häufig übergangen.

Hat man vom Bauwesen keine Ahnung, werden die Details sich zur Parallelwelt zusammenfügen.

In allen hier genannten Texten hat man es im Übrigen mit einem Ich-Erzähler zu tun.

Im zweiten Interview, das die norwegische Gesellschaft zum Thema hat, spricht der Sozialanthropologe Thomas Hylland Eriksen kurz über das Skispringen als Metapher, was perfekt zu Luftwege überleitet. Øivind Hånes entwirft mit diesem sagen- oder märchenhaft anmutenden Prosagedicht die Idee, das Skispringen, eine Sprungschanze, das Prinzip der Sprungschanze sei natürlich in Norwegen, habe sich selbst geschaffen.

Einige der besten Gedichte des Bandes stammen von Anne Helene Guddal (der ich zugleich zwei der schlechtesten zuschreiben möchte). Außerdem findet sich das zu Recht ikonisch gewordene, sehr berührende Strafe von Cecilie Løveid über die Breivik-Anschläge, das Merete schon ansprach.  

Ich glaube, man muss lügen, um behaupten zu können, einem gefielen alle Beiträge einer Anthologie, trotzdem ist diese Sammlung eine Werbung für Literaturzeitschriften. Die Vielstimmigkeit, die Aktualität, der „multidisziplinäre“ Annäherungsansatz, die Gestaltung: genial. Englerts dreijährige Sichtungsarbeit hat sich gelohnt.

Ich müsste zu einem Fazit kommen, entsprechend meiner Frage, aber bin dafür zu wenig geradlinig unterwegs gewesen. Norwegen, das steht zumindest fest, bleibt das Land der Fjorde und Ich-Erzähler. Die Literatur ist dynamisch, ausprobierend und ins Selbstverständnis eingeprägt, ganz ähnlich dem Wintersport, ihre von Staatsseite geschaffen Voraussetzungen besser als z.B. in Deutschland. Bei den letzten olympischen Winterspielen wäre Deutschland, hätte das Eishockeyteam im Finale Gold geholt, mit dem letzten Wettkampf im Medaillenspiegel an Norwegen vorbeigezogen. In der Literatur steht das nicht in Aussicht.

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