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Heimat verhandeln V&R böhlau
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Kritik

wundgerissen

Hamburg

Erstaunlich, wie lange es in einem angeblich globalisierten Weltganzen immer noch dauert, bis Dichterinnen und Dichter mit ihren Werken, die in der außerdeutschen Sprachwelt und erst recht in ihrer Heimat schon lang bekannt sind, in die deutsche Sprache übersetzt werden. Knut Ødegård ist solch ein Dichter, der jetzt endlich auch von einem deutschsprachigen Publikum gelesen werden kann. Dies ist nicht zuletzt der Frankfurter Buchmesse zu verdanken, deren Gastland dieses Jahr Norwegen ist.

Knut Ødegård ist 1945 in der norwegischen Stadt Molde geboren, lebt heute abwechselnd hier und in Islands Hauptstadt Reykjavík. Er studierte Theologie und Philosophie in Oslo, später Literatur in Cambridge. Bereits 1967 veröffentlichte er seinen ersten Lyrikband, hat seither mehr als 50 Bücher publiziert, viele davon Gedichtbände, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. So gab es bereits 1982 mit „Wind over Romsdal“ die erste Übertragung ins Englische, der weitere Übersetzungen seiner Bücher folgten. Nur mit dem Deutschen wollte es bislang nicht so recht klappen, ein Manko, das nun behoben ist, denn „Die Zeit ist gekommen“, dank der deutschen Übersetzung von Åse Birkenheier. „Tida er inne“, wie das Werk im Original heißt, ist 2017 in Oslo erschienen, wurde von der Literaturkritik begeistert aufgenommen und war für den Brage-Preis, den größten norwegischen Literaturpreis nominiert.

Das Buch ist in vier Kapitel gegliedert, die römische Ziffern anstelle von Titeln tragen. Doch welche oder wessen Zeit ist hier wofür oder weshalb gekommen?

Auf dem grünen Buchcover ist ein stilisiertes, ellipsoid verzerrtes Uhrenblatt zu sehen. Die beiden Zeiger stehen auf ungefähr fünf Minuten nach zehn Uhr. Es könnte sich um den Abend, gleichsam den Abend des Lebens handelt. Es könnte auch 10 Uhr vormittags sein, eine Metapher für den Anfang des Lebens, die Kindheit. In vielen Gedichten dieses Bands gibt es ein Ich, das spricht und das manchmal den Namen Knut trägt, das zurückblickt, von sich selbst, von Vater und Mutter erzählt, vom tragischen Schicksal naher und entfernter Verwandter. Und es ist ein Ich, das sein Altern und das seiner Frau konstatiert sowie körperliche Veränderungen, die er beobachtet oder die sich schmerzhaft aufdrängen. Knut Ødegård grenzt sich in seinen Anmerkungen am Ende des Buchs als Person von diesem lyrischen Ich ab:

Die Gedichte in dieser Sammlung sind Dichtung und keine Biographie. Allerdings habe ich manchmal biographisches Material als Elemente in der Fiktion genutzt, diese sind aber dann nicht mehr biographisch ... Manchmal entfernen sich die Gedichte weit von eventuellen biographischen Fakten, z.B. wenn ich über die Umstände in meiner Familie schreibe.

Es hätte dieser Anmerkung eigentlich nicht bedurft. Denn der Dichter erschafft ein prototypisches Ich, das den Norden Europas mit seinen Landschaften und Geschichten von klein auf gehört, gesehen, gefühlt und verinnerlicht hat. Es überblickt wie Ødegård etwas mehr als die zweite Hälfte des 20. und die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts und hält nun als Zeuge den Moment für gekommen, innezuhalten, einen Blick zurückzuwerfen und einen zweiten Blick auf die beschwerlicher werdende Gegenwart und in die Zukunft zu richten. Im Zentrum steht das Leben einzelner Individuen und die Frage nach der persönlichen Gestaltungsfreiheit des Lebens. Den Inhalt dieser Gedichte könnte man in Analogie zur Covergestaltung grafisch vereinfacht als zwei Kreise oder Ziffernblätter darstellen, die sich zum Teil überlappen und eine gemeinsame Schnittmenge bilden. Im ersten Kreis werden Veränderungen verschiedener Ichs, ihre Erinnerungen und Beobachtungen verhandelt, im zweiten, größeren Kreis unterschiedlichen Erlebnisse, die man als Variationen von Beschneidungen und Abtötungen bezeichnen kann. Als Rahmenhandlung dient die Illusion einer Theateraufführung, in der die Zeit die Bühne und dann das Haus des Ichs betritt. Im letzten Gedicht, das an die koptische Legende des Hl. Ephräm erinnert, wird dieses Bild des Eintretens der Zeit ins Haus in einem Gleichnis noch einmal aufgenommen. Am Schluss wird die Zeit wirklich um sein. Das theatrale Vorgehen erinnert an ein berühmtes Zitat von William Shakespeare, in dem es heißt:

Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler, sie treten auf und gehen wieder ab.

Es könnte sich auch um eine Filmvorführung in einem Kinosaal handeln oder im eigenen Wohnzimmer. Es ist eine analoge Welt, in der Kopfbilder wie mit einem 8mm-Filmvorführgerät abgespult werden, „voller Staub im grellen Lichtstreifen / gegen die Leinwand“. Wie sehen Filme und es kann passieren, dass einer

... ruckelt und
ruckelt, reißt,

ein Klappern, Klappern
vom abgerissenen Film, der in diesem
Vorführgerät klopft

Oder wir sitzen gemeinsam mit dem Dichter in seinem Wohnzimmer, während er in dicken Fotoalben blättert, uns das eine oder andere Bild zeigt und dazu poetische, meist grausame Geschichten erzählt. Es ist eine sinnliche Ästhetik der Schwarz-Weiß-Fotografie mit einem großen Reichtum an Grauschattierungen. Und vereinzelt setzt Ødegård Farbtupfer, etwa wenn das Ich den blauen Schulranzen auf seinem Rücken erinnert, „[b]laue Luft“ oder seine „Mutter in blauem Mantel“. Oder wenn er „eine Mütze aus rotem Rinderleder“, „laubgelbe Sträucher“ und „grünes Mondlicht“ ins Grau kleckst. Oder sich selbst und seine Angst in einer archaischen, großteils als irritierend, zuweilen feindselig erlebten Welt beschreibt:

... und ich war / dünn, ich war blass und rothaarig

Brillenträger obendrein. Er erinnert die behütende Mutter, den schweigsamen Vater und seine Erziehungsmethoden der Abhärtung. Es ist eine Welt der Versehrungen durch und nach dem 2. Weltkrieg, in der manch Psyche zerbricht, wie er in einigen Gedichten zeigt, etwa über die „Deutschenhure Therese“, eine entfernte Verwandte, der nach dem Krieg durch junge Männer im Siegesrausch die Bluse vom Leib gerissen, die Haare abrasiert und zugleich der „Verstand aus dem Kopf“ geschnitten wurde. Auch Großtante „Beretanna“, deren Sohn „an der Front in Russland“ krepierte, verlor den Verstand, saß „im schwarzen Schaukelstuhl“

da oben im Dachgeschoss, frei
oder unfrei in ihrem Irrenhaus
hinter verschlossener Tür

und strickte unaufhörlich an einem Schal für ihr Kind. Anschaulich zeigt der Dichter den Umgang mit nicht wenigen geistig Verrückenden, zu denen auch drei Schwestern des Ichs gehören. Oder Lars, „Mutters Cousin“, der verrückte und unter Wahnvorstellungen litt. Er wurde traumatischen, psychiatrischen Behandlungsmethoden unterzogen und schließlich lobotomiert, ein persönlichkeitsverändernder Eingriff, der schon lang nicht mehr durchgeführt wird, bei der Teile des Gehirns brutal zerstört werden, und den Lars nicht überlebte.

Ødegård richtet seinen Blick in diesem Buch aber auch über die Enge Norwegens und Europas hinaus und greift aktuelle Themen auf. „Nieselregen. Sie sieht und träumt“ ist eine zeitaktuelle Alptraumvision des Lebens auf der Erde in naher Zukunft mit direkten und indirekten Zitaten aus dem Eddagedicht „Völuspá“. Im Gedicht „Schatten“ wiederum erzählt er von einer jungen Frau, die dem Krieg in Syrien entkommt und nach Europa fliehen will. Beim Kentern des Bootes ertrinkt sie mit ihrem Säugling im Meer. Der Dichter, der auch Theologie studierte, verbindet diese Geschichte mit Geschichten des Neuen Testaments. Der Name der jungen Frau geht auf die biblische Maria zurück, doch es gibt keinen Josef und auch keinen Gott. Maryam, „ein vogeldünner Schatten ohne Papiere“, wird in Aleppo schwanger durch eine Vergewaltigung. Sie bringt das vaterlose Kind nicht in einem Stall, sondern auf dem Steinboden eines feuchten Kellers zur Welt. Die Flucht aus Ägypten ist ihre Flucht aus Aleppo, doch anders als die glückende Flucht der Bibel endet die Geschichte von Maryam und ihrem Kind letal.

Ødegårds Dichtung ist aus dem Leben gegriffen. Er beleuchtet tragische Geschehnisse der Vergangenheit, von Gegenwart und möglicher Zukunft, doch er dichtet stets ohne Pathos, ohne Larmoyanz. Seine Sprache ist nüchtern, auf das Wesentliche fokussiert und äußerst präzis, auch dort, wo es nah an die Grenzen des Erträglichen geht. Ein beeindruckender Gedichtband eines Dichters, in dessen poetisches Schaffen wir hier einen kleinen Einblick gewinnen.

Knut Ødegård
Die Zeit ist gekommen / Gedichte
Aus dem Norwegischen übertragen von Åse Birkenheier
Elif Verlag
2019 · 88 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-946989-22-6

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