Wie alles sich einholt
In mancherlei Volksgemeinschaften wird der Mensch als zu einer Landschaft gehöriges Wesen verstanden. Man kann nicht sagen, dass sich die Umgebung jemals nach den Bewohnern richten würde – vielmehr muss der Bewohner in die Landschaft wachsen, muss ich ihr anpassen, ihr angehören.
Es gibt eine Stelle in Milan Kunderas Essayband „Die Kunst des Romans“, wo er die Phantasie entspinnt, dass K., der Landvermesser aus Kafkas Roman „Das Schloss“, der tragische Held Don Quijote ist, einst unter der Sonne Spaniens als Ritter zu seinen Abenteuern und Kämpfen mit Windmühlen aufgebrochen und nun hier angelangt, als Beamter, im Schatten des allmächtigen Schlosses, im Schneegestöber. Die Geschichte des Romans = eine Wandlung des Abenteuers zur bürokratischen Bewältigung, des Spiels der befriedigenden Illusion zum Bericht der überreferenzierten, unbefriedigenden Gewissheit, etc., etc.
Diese kleine Phantasie erwähne ich, weil man in Raphaela Edelbauers Romandebüt immer wieder das Gefühl hat, an einer kleinen Quintessenz der Romanhistorie teilzuhaben, in den Motiven wie auch in der stilistischen und strukturellen Erscheinung. Aber alles der Reihe nach, ich beginne brav mit einem kurzen Plot-Teaser – wobei ich auch hier schon nicht um den Hinweis herumkomme, dass bereits der Anfang des Romans uns vor ähnlich schlagartig-vollendete Tatsachen stellt, wie es manche Romane und Prosastücke Kafkas tun.
Bei Ruth Schwarz, Edelbauers Protagonistin, ist es aber nicht die Verwandlung in einen Käfer oder die ungerechtfertigte Verhaftung, nein, es ist ein Autounfall, der die Tür zwischen den Leser*innen und der dadurch ins Rollen gebrachten Geschichte auftritt (eine Tür, durch deren Ritzen bis zuletzt ein leichter Albtraumwind ziehen wird). Bei dem Unfall sind, so erfährt die angehende Physikerin, ihre beiden Eltern zu Tode gekommen. Fast noch fassungsloser ist Schwarz aber, als sich herausstellt, dass die Eltern in Groß-Einland beerdigt werden wollen – einer Heimat, die sich auf keiner Landkarte finden lässt. Schwarz macht sich dennoch auf den Weg und gelangt auf ein paar Umwegen sogar ans Ziel. Was sie dort erwartet, auf und unter der Erde, mündet in einen unmöglichen Balanceakt zwischen zwei Formen von Integrität: moralischer und ortsbezogener. Denn ihr Weg führt sie nicht nur tief in den Aberwitz des österreichischen Hinterlandes und seiner Mentalität, sondern noch tiefer in die Schatten seiner Vergangenheit …
Schon der Ausgangspunkt, der Tod der Eltern, mengt dem Roman und seiner Sprache etwas Erschüttertes, leicht Surreales und gleichsam Bedingungslose bei, eine atmosphärische Mischung, die sich über die 350 Seiten nie ganz verflüchtigt. Dieser Einschnitt, Verlust, ist nicht nur der Start der Handlung, er definiert von Anfang an die Verhältnismäßigkeiten, die immer ein bisschen schief sind, unwirklich, dennoch zwingend.
Wie schon angesprochen, ist das „Das flüssige Land“ darüber hinaus ein Knäuel aus verschiedensten Einflusssträngen. Kurzgefasst könnte man sagen: Edelbauer nimmt sich das Beste aus vielerlei Welten, kombiniert bspw. die Unbändigkeit und fabulierende Energie eines Rabelais oder anderer früher Romanautor*innen mit der (be)zwingenden und entlarvenden (und manchmal penetranten) Manie(r) eines Kafka oder Musil.
Wer jetzt stöhnt: „Das ist jetzt aber schon hochgestapelt, Herr Brandt, ganz gleich, wie gut sie ist“, den kann ich direkt beruhigen: Ich möchte Raphaela Edelbauer nicht direkt ins Pantheon der Literatur hieven, mir geht es vor allem darum, den Stil und die Wucht ihres Prosa zu beschreiben. Dass ihr die Mischung manchmal um die Ohren fliegt, will ich auch gar nicht bestreiten. Auch die Figuren sind, abgesehen von der Protagonistin und ein, zwei anderen, nicht wirklich über ihr schießbudengeschneidertes Archetypenkorsett hinausgediehen (ein Umstand, der aber, bedenkt man den Fokus und den phantastischen Touch des Textes, nicht wirklich stört).
In jedem Fall muss man Edelbauers Mut bewundern, sich nicht nur des Themas NS-Vergangenheit in Österreich anzunehmen, sondern den Versuch zu wagen, diesem Thema mit einer solchen Mischung beizukommen, die den Irrsinn vieler Sachverhalte dann auch über weite Strecken gut verkörpert. Stanley Kubrick (ein weiterer großer Name, man möge mir verzeihen) wollte einmal einen ernsten Film über das Wettrüsten im Kalten Krieg drehen, gestand sich aber schließlich ein, dass dem Stoff nur mit einer Farce, einer schrecklichen Komödie beizukommen war (das Ergebnis ist „Dr. Seltsam oder Wie ich lernte die Bombe zu lieben“, für mich ein Geniestreich.)
Zusätzlich ist das Buch noch durchzogen von weiteren kleinen Stilspielen und Einschüben aus anderen literarischen Gattungen. Die können, in Form von kurzen Exkursen, in die Welt/Sprache der Physik führen, einmal wird aber auch eine aus dem Mittelalter überlieferte Legende wiedergegeben. Viele weitere Verweise könnte man anbringen – Alfred Kubins „Die andere Seite“ ist sicherlich keine schlechte Adresse, aber im Flirt des Buches mit der Phantastik und der vagen Verlässlichkeit der Erzählerin, scheinen auch Fixsterne des südamerikanischen Erzählens, wie etwa Cortázar oder Borges, auf. Ersterer kommt ein zweites Mal in den Sinn, wenn man sich anschaut, wie in dem Roman an verschiedenen Stellen Paranoia und ungenaue Bedrohlichkeiten, schwer einzuschätzende Größen dargestellt werden. Zu guter Letzt könnte man auch die Liste der Bücher, die Ruth mit auf ihre Reise nimmt, neben den Text legen und es würden sich wohl noch einige weitere Verweise ergeben: Wittgenstein, Walter Serner, Max Brod, Tristan Tzara. Wobei, letzte Anmerkung dazu: bei drei der oben genannten handelt es ich ja ausgewiesenermaßen, zumindest in Teilen ihres Werkes, um Sprachskeptiker und zugleich um Sprachfetischisten.
Dieser Widerspruch findet sich wiederum im Roman wieder: denn es ist ein Roman über die Ablehnung von Heimat und allen damit einhergehenden Mustern und doch die fast schon fetischisierte Auseinandersetzung mit Heimat und heimatlichem Erbe, mit allem, was noch tiefer geht als die Wurzeln von Verklärung und Tradition – oder zumindest tiefer vergraben wurde.
„Das alles war aufgearbeitet, eingerahmt und zu Infotafeln zusammengefasst in den Boden gestemmt worden – es gab eine Gedenkstätte, die dem Erinnern einen exakt gezirkelten Radius zuwies, in dessen Orbit man etwa zwei Dutzend Gladiolen pflanzen konnte.“
Ruth Schwarz versucht diesen Widerspruch aufzulösen, in dem sie ihn einholt, wird aber dann letztlich selbst eingeholt. Nicht von der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft, auch wenn sich in dem Buch (letztlich ist die Ausführung des Main-Plots auch eine coole Allegorie für die Ignoranz gegenüber solche umwälzenden Erscheinungen wie dem Klimawandel) für alle drei Varianten Beispiele und Allegorien finden lassen und es teilweise auch darum geht, dass man in kaum einer Gegenwart, einem Moment, genug Überzeugungskraft bündeln kann, die über sich selbst hinaus, in die Zukunft oder die Gegenwart hinein, Bestand hat, wirkt.
Nein, vor allem wird sie eingeholt von ihren eigenen Erwartungen und ihrem eigenen Vermögen. Edelbauers ernste Farce ist stark auf vielen Gebieten, ihre Glanzleistung bleibt dennoch der vielseitige Blick in den Abgrund ihrer Protagonistin, bei den kleinen und bei den ganz großen Themen, der sich klammheimlich im ganzen Buch auftut, wie die Risse, die Stück für Stück in Groß-Einland aufklaffen.
Natürlich will ich mit dieser Feststellung keineswegs die sonstigen Verdienste dieses Buches schmälern, aber ich finde, dieser Aspekt wurde in anderen Besprechungen bisher zu selten hervorgehoben.
Wer sich auf dieses Buch einlässt, den erwartet in jedem Fall eine Art permanenter Ausnahmezustand, jede Menge Irritation und alles in allem ein drastisches Lesevergnügen. Franz Kafka hat gesagt, Bücher müssen Beißen und Stechen. Im direkten Duell hätte "Das flüssige Land" in dieser Disziplin sicherlich gute Karten gegen viele Kontrahenten.
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