Der Prophet in den Zeiten der Sozialen Medien
Wenn man sich so umschaut in der Welt mit ihren Kriegen, mit Hass und Hetze und all den Zombie-Ideologien, die gerade wieder aus ihren Grüften kriechen, könnte man denken: Um Gottes Willen keine Propheten mehr! Die haben schon genug Unheil angerichtet. Oder man denkt: Wir brauchen dringend wieder einen Propheten, der eine Friedensbotschaft verkündet! Ist ja schon ne Weile, seit Jesus und Muhammad es versucht haben – und kläglich gescheitert sind.
Ein eigenbrötlerischer (man könnte sagen: ein nerdiger) Informatiker, der bezeichnenderweise auf den Namen Mehdi hört, leidet mit jedem Menschen, dem es schlecht geht. Wenn er Zeitung liest oder die Fernsehnachrichten sieht, kann er tagelang nicht schlafen. Die Menschen machen ihn fertig. Er sucht vergeblich sein Heil in den Schriften der Weltreligionen und den Wahrheiten der Dichter. Er würde so gern eine Botschaft des Friedens unter die Leute bringen, aber mit weniger als hundert Followern bei Twitter und Instagram will das nicht so recht funktionieren. Und aus dem Haus kommt er, sehr zum Gram seiner Frau und seiner Tochter, auch nicht, denn seit Kindestagen plagt ihn ein schmerzhaftes Hühnerauge, und die Panik, jemand könnte drauftreten, lähmt ihn völlig.
Nach seinem so melancholischen wie bedrückenden Roman „Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam" (2017), über eine sterbende Dorfgemeinschaft vor dem Einfall des Militärs, hat der kurdische Autor Yavuz Ekinci mit Mehdi einen so irren wie verschroben-einprägsamen Charakter geschaffen, der irgendwo zwischen liebens- und bemitleidenswert ob seiner Güte gepaart mit hoffnungsloser Naivität pendelt. „Die Tränen des Propheten“, abermals übersetzt von Oliver Kontny, ist der zweite Roman von Ekinci, der auf Deutsch erscheint – und man darf hoffen, dass die übrigen fünf Bücher noch folgen werden.
Mehdi, der friedliebende Normalo, der sich den Weltfrieden wünscht, wird eines Nachts tatsächlich erhört. Frau und Tochter sind, dem Hühnerauge sei Dank, ohne ihn im Urlaub, da erscheint der Erzengel Gabriel, verwüstet mit seinen sechs flatternden Flügel die Wohnung, wobei auch Goldfisch und Wellensittich dran glauben müssen, und erwählt Mehdi zum neuen Propheten, der das Himmelreich auf Erden verkünden soll. Mehdi fühlt sich erleuchtet, weiß aber trotzdem erst nicht so recht, wie er seiner Familie das Chaos erklären soll, das der Engel hinterlassen hat, und das irgendwie mehr an Azrael als an Gabriel erinnert. Und dass ihn sogar seine engsten Freunden bloß auslachen, als er ihnen von seinem himmlischen Auftrag berichtet, lässt ihn verzweifelt zurück. Niemand will ihm glauben, alle halten ihn für bekloppt – dabei will er doch bloß, dass das alltägliche Blutvergießen ein Ende findet. Aber auch Gabriel lässt ihn fortan im Stich.
Ekinci schickt seinen Helden in eine Welt, in der die Propheten durch Instagram-Influencer ersetzt wurden, Kriege zur Normalität gehören und einer, der sich eine ganz andere Welt vorstellt nur geisteskrank sein kann. Der schmale Grat zwischen urkomischem Schelmenroman und einem resignierten Blick auf die Menschheit im 20. Jahrhundert gelingt Ekinci dabei so überzeugend, dass man Seite für Seite gezwungen wird, seine Positionen zu hinterfragen, zu überdenken, worüber man da eigentlich lacht. Zugleich fächert er ein anspielungsreiches Panorama der Religionskritik auf, indem er Mehdi durch die Mythen der Theologien stolpern lässt und ihn zeitweise zum unfreiwilligen Hamlet macht. Ein kleines Buch und zugleich ein großer Wurf, der zeigt, weshalb die junge türkische Gegenwartsliteratur von weltliterarischer Bedeutung ist.
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