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Kritik

Das Augenleuchten der Anne Dorn.

Sechsundachtzig Jahre alt hat Anne Dorn werden müssen, um ihren ersten Gedichtband zu veröffentlichen — und damit das vielleicht dienstälteste Debut der deutschen Lyrik vorzulegen. Aus ihren Gedichten unter anderem im „Jahrbuch der Lyrik“ ist sie dem aufmerksamen Publikum natürlich längst bekannt, als eine große und souveräne Stimme. „Wetterleuchten“ hat sie den Band betitelt, knapp, präzise, unprätentiös. Aus welcher Anzahl Gedichte aus wievielen Jahren ist der Band ausgewählt und zusammengestellt worden? Wir erfahren es nicht. Minimale Verschiebungen in Form und Ton sind zwar zu bemerken und geben Anlaß zur Vermutung, es könnten Jahrzehnte sein, dennoch ist der Band von ungewöhnlicher Geschlossenheit, die ihn zu einem Ereignis macht.

Gleichsam programmatisch beginnt die Sammlung mit einem Gedicht, das Anne Dorns beobachtende Haltung und ihre Augenlust als Kommunikation zwischen Autorin und Lesern beschreibt: „Ich muß Euch zurückgeben, / was Euch gehört“. Dieses Bekenntnis ist unmittelbar verbunden mit dem dichterischen Akt: „Eine Spannerin bin ich geworden. / In der Stadt sammele ich, / und draußen, in den kleinen Ortschaften, / die die Traurigkeit ihrer Bewohner aufsaugen / und über den Winter retten, / breite ich mein Sammelgut aus.“ Es ist nichts weniger als die Liebe eines Menschen zu einem anderen, die antreibt und „große Unruhe“ stiftet, wie Anne Dorn sagt, doch es ist in gleichem Maße auch die Liebe zu den Dingen, zur sichtbaren Welt.

Keine Fachsprache, kein elaboriert hoher Ton wird hier angeschlagen, es gibt nur das Vertrauen in die gewöhnliche Sprache, voll kleiner Redewendungen, durchflochten mit Metaphern, bezaubernden Bildern und raffinierten Abweichungen von der alltäglichen Syntax, die Anne Dorns Gedichte dann in hymnische Höhen hinaufschrauben. Ein Beispiel dafür sei an dieser Stelle vollständig zitiert:

Aufwärts, nach oben — weiter —
wozu die Füße betrachten,
das Tappen,
den Kampf mit der Schräge.
Gesenkten Blickes Schnecken, Käfern und
Würmern ihr Leben lassen. Die abwärts
stürzenden Wiesen bereits überwunden,
den verqueren Schlehdorn. Tiefer, entfernter
schon dieses grüne Gewoge der Eschen- und
Eichenkronen, gestaffeltes Dunkel der Fichten.
In letzter Tiefe, vom Band des Nebels
verraten, der Lauf des Stromes.
Aufdämmernde Freude: Ein
Brunnen vielleicht, eine Hütte ...
Im ausgetrockneten Bachbett voran, von
deinem Tritt gelöst abwärts polternde Kiesel.
Halte dich fest an den Zweigen der hingeduckten,
zerzausten zwergigen Krüppelbüsche.
Lerchen — höre doch —
unermüdlich jubelnd dir schon voraus!
Auch ihr Absturz ins karge Gelände.
Die plötzliche Stille. Ankunft.
Erschauern.
Unerreichbar ringsum
die bebende, schäumende
Küste des Himmels.

In ihrem luziden Nachwort, das Auskunft gibt über einige biographische Stationen, nennt Jayne-Ann Igel die Autorin sehr zutreffend „vor allem eine Sammlerin, eine Sammlerin von Dingen, Augenblicken, Wegen, alltäglichen Gelegenheiten“. Beobachten und fühlen, und das Beobachtete und Gefühlte zu formen, bedeutet, das Gedicht für jedes Thema und jede Stimmung zu öffnen, hiesig und heutig, dennoch die Traditionen nicht verschmähend. Dabei werden die biographischen, persönlichen Momente gekonnt zu allgemeinen Betrachtungen umgemünzt, jedoch niemals so, daß der subjektive Blickwinkel aufgegeben würde. Genau diese Balance ist es, die Anne Dorns Gedichte zu großer Lyrik macht.

Eine analytische und somit verallgemeinernde Betrachtung würde den Gedichten nicht gerecht werden, zu vielfältig ist ihre Thematik, zu individuell jeder Text. Anne Dorn beschreibt einzelne Tage („Partitur eines südlichen Februartages“, „Am heißen Tag“), Erinnerungen an ihre Familie („Blutsverwandtschaft“) und Kindheit („Hannas Fest“), ein Stellwärterhäuschen („Zugwind“) oder den Müll der Zivilisation („Vergessene, wispernde Halde“), den Orgasmus als Weltvergessen und kurzes Gefühl der Nichtverlassenheit („Fünf Sekunden“), die anonyme Leere der Busse und Straßenbahnen („In den Städten“), und nicht zuletzt das Warten, den Schmerz, die Verlassenheit. Wenn Anne Dorns Gedichte hier souverän genannt wurden, dann unter anderem deshalb, weil ihnen Inhalt und ästhetische Gestaltung des Inhalts genügen und sie nicht um eine künstliche Originalität buhlen müssen, im hymnischen Schwung ebenso wie in der staccatohaften Aufzählung von Details (z.B. in „Regen“).

Einziger Wermutstropfen dieses ansonsten grandiosen Lyrikdebuts ist das mangelhafte Lektorat. Tippfehler und orthographische Inkonsequenzen sowie das grammatische Unwort „herausgehangen“ trüben das Vergnügen für jeweils ein paar Sekunden.
 

Anne Dorn
Wetterleuchten
Nachwort: Jayne-Ann Igel
poetenladen
2011 · 80 Seiten · 16,80 Euro
ISBN:
978-3-940691309

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