Anzeige
Heimat verhandeln V&R böhlau
x
Heimat verhandeln V&R böhlau
Kritik

Booker Prize im vierten Anlauf

Nach umfangreichem Werk, weltweiten Auszeichnungen und internationalem Erfolg hat Julian Barnes für seinen letzten Roman im vierten Anlauf endlich den Booker Prize erhalten. Von Anfang an galt Barnes mit „The Sense of an Ending“, (zu Deutsch „Vom Ende einer Geschichte“, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch) als klarer Favorit. Die Jury wurde gleichzeitig gelobt und getadelt dafür, dass sie die Bücher nach Lesbarkeit auswählte, als wäre dies ein literarisches Manko. Lesbar ist dieses Buch allemal, jedoch verbirgt sich hinter der angemahnten Einfachheit mehr, als man auf den ersten Blick vermuten würde.

Geschichtsschreibung ist selten objektiv, lautet Barnes‘ Prämisse. Wie sehr können wir uns auf unsere Erinnerungen verlassen? Sind sie nicht vielmehr eine Interpretation der Vergangenheit, eine Konstruktion, hier und da retuschiert, bewegt, verändert? Zu welchem Grad sind sie gar Selbsttäuschung? Auf den ersten Blick unverhohlen blickt Anthony Webster auf sein Leben zurück. Es ist die Geschichte eines Mannes mittleren Alters, den eine unerwartete Erbschaft plötzlich den sicheren Episoden des eigenen Lebenslaufs misstrauen lässt. Tiefer in seiner Vergangenheit grabend, muss er seine Rolle im Geschehenen hinterfragen, nur um festzustellen, dass seine Erinnerungen die Realität nicht annähernd so präzise widergeben, wie er gedacht hatte.

Der Roman teilt sich in zwei Abschnitte. Der erste beinhaltet Tonys Bericht über seine „buchhungrigen und sexhungrigen“ Schuljahre und über den Selbstmord seines Freundes Adrian. Das Scheitern seiner ersten Beziehung mit der undurchschaubaren Veronica ist für Tony ein weiteres Stück vermeintlich abgeschlossener Vergangenheit, in der er vierzig Jahre später nach Antworten sucht. Wie sehr Tony uns mit seinem simplen Bericht irreführt, klärt sich erst im zweiten Abschnitt, wenn er wieder Kontakt zu Veronica aufnimmt, und die Ereignisse von damals in einem völlig anderen Licht erscheinen.

Tony ist wie so viele von Barnes‘ Figuren musterhaft durchschnittlich und zufrieden damit. Einerseits ist die Bilanz seines Lebens ansehnlich – annehmliche Ehe und annehmbare Scheidung, durchwachsene Karriere gefolgt von unbeschwertem Ruhestand, eine Tochter, die öfter mal anrufen könnte. Auf den zweiten, kritischen Blick, sieht Tony sich selbst als bedauernswertes Mittelmaß, als einen Mann, der die Dinge nahm, wie sie kamen, anstatt sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Gnadenlos präzise inspiziert Barnes das Alter und wie man das eigene nahende Ende empfindet. Tony hat keine hoffnungsvolle Zukunft mehr vor sich, keine Möglichkeit, doch noch etwas zu ändern. Auch wenn sich seine Wahrnehmung der Dinge schlagartig ändert, tun kann er nicht mehr viel.

Barnes‘ Sprache ist schlicht, präzise und elegant, manche Sätze von ergreifender Schönheit und Einsicht. „Vom Ende einer Geschichte“ ist ohne Pathos erzählt, sparsam und schlüssig. Die „unglaublichen Wendungen“ und „atemlose Achterbahnfahrt der Spekulationen“, wie die Werbetrommel für das Buch sie verspricht, bleiben jedoch aus. Eine Schwäche der Erzählung sind die teils eindimensionalen Charaktere, allen voran Veronica. Bis zum Ende bleibt sie matt und schwer fassbar, dafür, dass sie eine Schlüsselrolle in der Re-Evaluation Tonys Vergangenheit spielt. Die Logik ihres Verhaltens bleibt obsolet und ihre Unverständlichkeit schlichtweg nervig. Dadurch schaffen die letzten schnell aufeinanderfolgenden Wendungen der Story es leider nicht, den Leser vom Hocker zu hauen. Das überraschende Ende verfehlt seine Wirkung, da die Charaktere schlichtweg belanglos sind. Man fragt sich, ob in dem alternden zufriedenen Tony nicht auch ein Stück des Autors steckt, dem die Erzähllust vergangen ist. Der Booker Prize steht Barnes zweifellos zu, sei es dahin gestellt, ob diese zweifelsohne lesbare, jedoch etwas farblose Lektüre oder doch sein Lebenswerk und der vierte Anlauf ausschlaggebend waren.

Julian Barnes
Vom Ende einer Geschichte
Übersetzung:
Gertraude Krueger
Kiepenheuer & Witsch
2011 · 192 Seiten · 18,99 Euro
ISBN:
978-3-462044331

Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge