Poetische Feineinstellungen
Walle Sayer ist ein Verwurzelter, ohne ein Heimatbeschwörer zu sein. Der 1960 im schwäbischen Bierlingen geborene Verfasser von Lyrik und lyrischer Prosa lebt heute in Horb am Neckar und damit gemessen am aufgeregten Hin und Her literarischen Hipstertums unweit seines Geburtsortes, und vor allem: nicht in Berlin. Walle Sayer ist keiner, der die Impulse und die vermeintliche suggestive Kraft des Großstädtischen benötigt, um schöpferisch tätig zu sein. Dabei ist der lyrische Betrieb durchaus seit langem auf ihn aufmerksam geworden. Ein Reihe angesehener Ehrungen hat er bereits erhalten, zuletzt 2017 den Basler und 2018 den Gerlinger Lyrikpreis, den letzteren für Gedichte, die nun in sein neuestes Buch aufgenommen wurden.
Sein Leben und sein literarisches Werk weisen parallel zueinander große Beständigkeit auf. So veröffentlichte er die allermeisten seiner zahlreichen Einzelpublikationen in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit dem Verleger Hubert Klöpfer, dessen Verlag Klöpfer & Meyer im nahegelegenen Tübingen für so viele literarisch hochwertige Hervorbringungen stand, und dies für mehr als ein Vierteljahrhundert - für ein kleines Haus im Umfeld der auflagenstarken Riesen eine Leistung für sich. Seit diesem Jahr hat Klöpfer in Sonja und Gunter Narr eine Nachfolge gefunden, die sein Werk, und mit ihr ein Stück weit auch die Verbundenheit zu den Verlagsautoren fortzusetzen gedenkt. Die nunmehr Klöpfer, Narr GmbH hat sich so - zum Glück für die Leserschaft - auch des jüngsten Gedichtbands von Walle Sayer, "Mitbringsel", angenommen.
Der Unterton von Beiläufigkeit, der dem Titel innewohnt, passt gut zum Charakter der Sayerschen Gedichte. Sein Grundton ist niemals auf reißerischen Effekt aus, die aggressive Gebärde wettbewerblichen Herausragen-Wollens sucht man bei ihm vergeblich. Das macht sein Werk zu einem Inbegriff des viel ge- und missbrauchten Begriffes der Entschleunigung. Sayer schafft es, um ein Motiv motorisierter Fortbewegung zu bemühen, großen Gang und kleine Geschwindigkeit zu kombinieren und damit dennoch mühelos jede Steigung zu nehmen.
Dabei wirkt die vordergründige Niedertourigkeit seiner Lyrik nie behäbig. So fügt der Dichter etwa Beobachtungen, die auf den ersten Blick nichts miteinander gemein haben, zu einer ganz einfachen Reihe von kurzen Sätzen, die eine ganze Lebenswelt zu evozieren imstande sind wie etwa in dem Gedicht
"Feineinstellungen eines Härtegrades":
"Das Mädchen in der Jungsmannschaft. / Der Jagdinstinkt von Wohnungskatzen. / Feiertage, wenn sie auf einen Sonntag fallen. / Kopfnuß fürs weggeworfene Bonbonpapier. / Ein Anlageberater, der Hobbykünstler ist. / Ein Hobbykünstler, der Anlageberater ist. / Die vertrocknete Primel auf dem Fensterbrett. / Ein Rehpinscher, der Brutus heißt."
Walle Sayer versteht es, den Dingen ihre Perspektiven anzulegen. Er dichtet ihnen nichts an; er erschließt sie seiner Leserschaft auf anderen Ebenen, als sie sie zu sehen gewohnt und in der Lage sind. Die Dinge, deren sich Walle Sayer lyrisch annimmt, werden Entitäten, gewinnen ihre bisher unentdeckte, jedoch ureigene Wesenheit:
"Hinterm Haus // Regloser steht der Gartentisch / seitdem die Mauereidechse / sich sonnt auf ihm."
Lebendiges und scheinbar Unbelebtes wird wie selbstverständlich in Beziehung zueinander gesetzt, woraus sich Reaktionen und immer neue Sichtweisen ergeben. Auch der regionale Aspekt (von Heimat wäre angesichts dieses zur Zeit wieder so schrecklich inflationär gebrauchten Terminus' nicht ganz ohne Gefahr zu sprechen) wird mit diesem Verfahren verknüpft und findet dabei immer wieder seinen Ausdruck ins Sayers Gedichten. Das liebevolle In-Erinnerung-Rufen von Tradition nicht um einer blinden Reproduktion von Überkommenem willen, sondern klar um der Benennung von Sinn und Zweck, verbindet sich hierbei nicht selten zu einem Denkanstoß um Worthülsen wie die ebenfalls diskursiv überstrapazierte "Nachhaltigkeit" und spürt poetisch ihrem eigentlichen Wert nach wie in
"Winterritual":
"Beim ersten Neuschnee / rollte man ihn zusammen, / den Wohnzimmerteppich, / trug ihn zu zweit / die Stiegen hinunter, / legte ihn ins Unberührte, / rieb ihn weiß ein, / bürstete ihn aus, / bis seine matten Farben, / seine ausgetretenen Muster / wieder leuchteten."
Dabei taucht vereinzelt auch das ein oder andere schwäbisch-alemannische Lehnwort auf wie "Bäbbigsüßes" (bäbbig = klebrig) oder "schleckig" (= etwa: geschmacklich wählerisch). Doch die mundartlichen Einsprengsel erscheinen nie als Selbstzweck oder Wink mit dem Zaunpfahl herkunftsbezogener Verortung. Wenn Sayer sie in seine Gedichte einbaut, dann entweder aus atmosphärischen oder aus lautlichen Gründen und obendrein mit der Selbstverständlichkeit, die eine hochdeutsche Entsprechung an eben dieser Stelle wie einen Fremdkörper hätte wirken lassen. Überhaupt ist Sayers Sprachgefühl überaus fein. Man merkt seinen Texten nicht an, dass sie in Wahrheit lange gefeilt sind, um am Ende wie aus einem Guss, wie zugefallen, zu wirken. Der Dichter, der vor vielen Jahren in einem Gespräch mit dem damaligen Leiter des Stuttgarter Literaturhauses anlässlich einer Lesung auf eine Frage hin erwähnte, dass er schreibe, weil er "nicht so gut reden" könne, lauscht den Worten so lang ihr Innerstes ab, bis er sie immer wieder neu in Beziehung zueinander setzen kann, ein Prozess langer und intensiver, aber auch spielerischer Beschäftigung:
"Nah am Ohr // Einen Würfelbecher schütteln, darin / eine Kastanie ist, ein Strandkiesel / und eine schillernde Murmel."
Walle Sayer kann übrigens entgegen seiner Selbsteinschätzung ganz wunderbar reden - klar und freundlich und vollkommen unprätentiös, genau wie seine Gedichte. Die wirken bereits in der Ruhe der eigenen vier Wände gelesen wie ein Heilmittel gegen die mediale Überdrehtheit, der sich so schwer zu entziehen ist; Sayer selbst lesen zu hören unterstreicht diese Wirkung noch - wem sich die Gelegenheit dazu bietet, sollte sich eine Lesung von ihm nicht entgehen lassen.
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