Helle Romantik
Das Apollinische hat seit Friedrich Nietzsche einen schlechten Ruf. In seiner Schrift Die Geburt der Tragödie hatte er es zum Ende des 19. Jahrhunderts gegen das sogenannte Dionysische ausgespielt, das vom erschütternd Leiblichen, lustvoll Energetischen, alle Grenzen überspülend Rauschhaften erst zu Formgebung und kunstvoller Beherrschung motiviere und damit das eigentliche Element schöpferischer Kräfte sei. Nietzsche kehrte sich vehement gegen die Ästhetik der Aufklärung, wie sie von Johann Joachim Winckelmann für die historische und Immanuel Kant für die philosophische Kunstbetrachtung entwickelt wurde, mit dem Primat der herrschenden Form und der Autonomie eines willensstarken Subjekts. Das unergründliche Seelenleben einerseits und die menschliche Vernunft andererseits bedingen einander, wie man die Akzente auch setzt. So wandte sich ein Zeitgenosse Nietzsches bereits von ihm wie auch Winckelmann ab, als er dieses unauflösbar beidseitige Verhältnis in den bildenden Künsten mit dem Begriff der Pathosformel verband: Aby Warburg. Wie wirkt das Erschütternde mit der es überhaupt nur erkennbar machenden Form?
Der österreichische Schriftsteller Erich Wolfgang Skwara hat hierauf seine eigene Antwort gegeben, durch ein literarisches Programm, das seit über vierzig Jahren dem Versprechen zweier Ideale folgt, von denen eines bis in die griechische Antike zurückreicht, eines der Romantik verpflichtet bleibt. Während der Gott Apollo im Altertum als Patron von Jagd und Musik verehrt wurde – und erst ab dem Mittelalter mit der Sonne und dem Licht gleichgesetzt –, galt Attika auch damals schon seiner besonderen Lichtverhältnisse wegen als Ort der Erfüllung, des günstigen Klimas (etwa für den Weinbau). Dieses Ideal gemäßigter, mediterraner, lichtdurchfluteter Erfüllung wurde gerade in Frankreich seit der Romantik in die Moderne getragen, indem Victor Hugo das ozeanische Lebensgefühl damit verband, Albert Camus später seine Beschreibungen glücklicher Momente am Mittelmeer. In seinem neuen Roman Mare nostrum oder Ein Bahnhof für jene, die ankommen verwebt Skwara zentrale Elemente dieses Hintergrunds zu einer ebenso symbolträchtigen wie spannungsgeladenen Liebes- und Lebensgeschichte. Das zweite Ideal, die Romantik – als Brechung jenes rationalistischen Ethos der Aufklärung, zugunsten fragmentierter Erfahrungen und Darstellungen der flüchtigen, bedrohten Existenz – wird insofern nicht nordisch, ans Mittelalter anknüpfend, faustisch bzw. gothic im englischen Sinn verstanden, vielmehr hell, im Licht badend, gesetzt, genau, klar umrissen. Die Symbiose einer solchen hellen Romantik bahnt sich zum Beispiel bereits im reiferen Schaffen (von Spätwerk möchte man bei einem so jung Verstorbenen nicht sprechen) von Wolfgang Amadeus Mozart an, im Adagio der Klaviersonate KV 457 etwa, die ebenfalls zum Kernbestand der Elemente gehört, mit denen Skwara seine Erzählung gestaltet.
Wovon also handelt Mare nostrum? Ein junger Aufnahmeassistent einer Schallplattenfirma lernt in Salzburg Ende der sechziger Jahre eine italienische Pianistin kennen. Sie finden nicht zueinander, doch vergessen können sie sich nicht. Die Faszination füreinander blieb offen, und so führen ihre Lebenswege sie über zwanzig Jahre später dazu, unerwarteterweise wieder Kontakt zueinander zu finden. Er schlägt für ihr Wiedersehen einen Küstenort an der französisch-italienischen Grenze vor, Menton auf Französisch, davor Mentone auf Italienisch. Ein Ort der Grenzüberschreitungen, auch für sie – und den der Mitte vierzigjährige Protagonist als Jugendlicher erstmals kennengelernt hat, als er unerlaubt auf die Ferienpostkarte eines französischen Brieffreundes hin spontan das Haus in Salzburg verlässt, mit dem Geld, das er entwenden kann, und allein so schnell es geht über Innsbruck, den Brenner, das nächtliche Mailand, im letzten Zug Richtung Genua bis nach Menton reist, wo er anderntags den Freund und seine wenig erfreuten Eltern überrascht. Bereits diese Reisebeschreibung ist beispielhaft dafür, wie der Romancier im Entwerfen von Wünschen, Träumen, Begierden aufblüht, sein Schreiben schwungvoll entfaltet, Szenen entwirft, die ins Gedächtnis gebrannt bleiben, wie das Umherirren des Jungen im mitternächtlichen Mailander Bahnhof, seine Fahrt mit einer turbulenten Gruppe übernächtigter Prostituierter auf dem Weg in die ländliche Peripherie. Vergleichbar zeichnet Skwara Horizonte der Verheißung: der Liebe, mit Blick auf das Wiedersehen der beiden Hauptfiguren nach so langer Zeit; der Schönheit, hinsichtlich der Tage am Meer mit dem Freund, ihren Streifzügen durch die Umgebung, zum Friedhof des kleinen Ortes, malerisch auf einer Anhöhe gelegen.
Was inhaltlich in Klischees münden könnte, wird durch die sprachgenaue, stilistische Detailarbeit in den künstlerischen Anspruch überführt, die romantische Tradition auch im 20., im 21. Jahrhundert aufrecht zu erhalten (denkt man an den langen Werdegang Skwaras, auch seine früheren Arbeiten in diesem Zusammenhang, wie etwa die Erzählung Versuch einer Heimkehr von 1998 oder den exquisiten Band Träumeerzählen von 2002, abgesehen noch von seinen Romanen, zuletzt Im freien Fall, 2010 erschienen). Das Bemerkenswerte an dem neuen Roman ist, wie überaus schlüssig und vielschichtig er diesen künstlerischen Anspruch erfüllt, den 71-jährigen Romancier auf der Höhe seines Schaffens zeigt, und so Mare nostrum oder Ein Bahnhof für jene, die ankommen auch als eine literarische Ankunft des Autors verstanden werden kann, in seiner eigenen, schreibenden Lebensgeschichte.
Fixpoetry 2019
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben