Kotzen als Kulturtechnik
Das Leben ist eine Komödie für den Denkenden
und eine Tragödie für die, welche fühlen.
Hippokrates von Kos
Das „Face Vomiting“-Emoji als Zeichen der Zeit
Immer häufiger verwende ich ein bestimmtes Emoji, um Brechreiz auslösende Beiträge auf Facebook zu kommentieren: das „Face Vomiting“-Emoji. Dieses Emoji scheint das passende Symbol virtueller Wirklichkeiten geworden zu sein.1 Nicht nur ich, auch zahlreiche andere Personen nutzen es, um den halbwegs aufmerksamen und mitfühlenden Teil des ‚geistigen Bewusstseins‘ zu repräsentieren. Der andere Teil desselben Bewusstseins löst den Brechreiz oft erst aus. Denn vieles von dem, was man täglich auf Facebook oder anderswo im Internet zu lesen bekommt – da muss man ehrlich sein –, ist ja tatsächlich zum Kotzen: Headlines, News, Meme, Posts, Bilder u.v.m. Aber vor allem sind es Sätze wie die folgenden, die ich nicht nur im symbolischen Sinne zum Kotzen finde: „Seehofer sieht keinen Anlass, die deutsche Sicherheitsarchitektur wegen des Rechtsterrorismus zu ändern“ oder „In der Pfalz bilden CDU und AfD eine Fraktionsgemeinschaft“ oder „Orbán stellt Forschungseinrichtungen unter Regierungskontrolle“.
Diese Diagnose lässt sich nicht nur auf Onlinebeiträge anwenden, auch der Lyriker und Politikwissenschaftler Max Czollek bedient sich in seinem Sachbuch Desintegriert euch! (2018) beim Begriff „Würgereflex“, der sich einstelle, wann immer er über vergangene wie aktuelle Unsäglichkeiten in Deutschland lese. Die Forderung etwa nach „Normalisierung“ eines neuen konservativ-nationalistischen Status Quo, mit dem nicht nur die Verdrängung historischer Ereignisse einhergeht, sondern auch die Marginalisierung abweichender und nicht-monolithischer Identitäten beschworen werden soll, stellt nach Czollek eben eine solche Unsäglichkeit dar. Nicht zuletzt deshalb fordert er auch eine „künstlerische Verarbeitung dieses Würgereflexes“.2
Mit dem Gefühl, etwas zum Kotzen zu finden geht mitunter ein körperlicher Effekt einher. Bei der Lektüre von Sätzen wie den oben zitierten kämpfe ich jedes Mal mit mir. Mein Denken will dann das Empfinden nicht so ganz ernst nehmen, was womöglich nur eine Abwehrfunktion ist. Das Empfinden ist dann meist stärker und macht mich kurzfristig ganz wirr im Kopf. Langfristig zeigt sich dieser innere Konflikt an Magen-Darm-Beschwerden. Mit mir ließe sich die Psychosomatik vollumfassend belegen.
Dass Texte, Wörter und Literatur Gefühle und körperliche Effekte auslösen können, ist seit Aristoteles ein alter Hut. Schon in seiner Poetik wusste dieser darauf hinzuweisen, dass insbesondere die Tragödie zur kathartischen Reinigung von unangenehmen Gefühlen ihren Beitrag leisten könne:
Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von
bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in
den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden, Nachahmung von
Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und
hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.3
Sprachliche und politische Brechmittel
Um diesen literatursomatischen Effekt zu erforschen, sammele ich seit einiger Zeit in meinem Notizbuch Wörter, die bei mir ebenso Brechreiz auslösen. Die Wörter verweisen nicht zwingend auf Kontexte und Zusammenhänge in Bezug auf politische Unsäglichkeiten oder andere ‚mediale Geisteskrankheiten‘ – wie die zahlreichen Beiträge im Internet und anderswo; diese Wörter stehen rein semantisch für ein komisches Gefühl in Bauch und Speiseröhre. ‚Leberkäs‘ ist zum Beispiel so ein Wort, oder ‚Muttermilch‘. Lässt man sich einmal diese Wörter in ihrer „geformte[n] Sprache“ auf der Zunge zergehen und malt sich gedanklich aus, was sie jenseits des alltäglichen Gebrauchs bildhaft darstellen, könnten sie – ganz im Sinne der aristotelischen „Erregungszustände“ – tatsächlich als veritable Brechmittel dienen.
Aber was ist das eigentlich für ein Effekt, der Brechreiz und das anschließende Erbrechen? Ich meine nicht zwingend als ästhetischer Ausdruck eines ‚reinigenden Zustandes‘, sondern körperlich. Wikipedia definiert „Erbrechen“ als „schwallartige Entleerung des Magen- oder Speiseröhreninhaltes (Chymus) entgegen der natürlichen Richtung durch die Speiseröhre und den Mund“4. Sehr poetisch, wie ich finde. Man könnte ein Gedicht daraus machen.
Hymne an den Chymus
Schwallartige Entleerung
Entgegen der natürlichen
Richtung.
Die Bewegung des Vomitats „entgegen der natürlichen Richtung“ finde ich eine großartige Wendung. Nicht selten sprechen sich jene Beiträge, die ich immer häufiger im Internet mit dem „Face Vomiting“-Emoji versehe, für angeblich ‚natürliche Richtungen‘ aus. Das zeigt sich an Sätzen wie diesen: „Niedrige Geburtenziffern und unkontrollierte Massenzuwanderung führen zur biologischen Selbstauslöschung“ oder „Hetero-Menschen sind eine unterdrückte Mehrheit: Straight Pride wurde genehmigt“ oder „AfD fragt nach kriminellen Ausländern mit drittem Geschlecht“.
Das Problem ist – wie so oft – die Naturalisierung kulturell-sprachlicher Sachverhalte. Nirgendwo wird das dieser Tage deutlicher als in identitätspolitischen Debatten. Wird Identität nämlich als idealtypische Einheit und Eindeutigkeit der Person angenommen, die Eigenschaften in Bezug auf bestimmte Lebensbereiche (z. B. geografisch, kulturell, sexuell, ethnisch) repräsentieren soll, wird entgegen dem polymorphen Gebilde – wie die Sozialwissenschaften Identitäten begreifen – eine unveränderbare, kollektive und monolithische Identität konstruiert und nicht selten auch biologistisch begründet. Sozialwissenschaftlich fundierte Identitätsforschung zeigt das genaue Gegenteil. Hiernach kann im Kontext von „Identität“ immer nur von einer „personellen Identität“ die Rede sein, die sich auf eine „orientierungs-, handlungs-, interaktions- und beziehungsfähige Person“ bezieht. Identität „ist nichts Gegebenes, sondern etwas mit symbolischen Mitteln Erschaffenes, Konstruiertes und somit Vorläufiges, Zerbrechliches“.5
Die Weisen der Begegnung des Subjekts mit der Welt werden sicher auch von genotypischen Faktoren mitbeeinflusst, z. B. von Dispositionen der Wahrnehmung oder der Leiblichkeit, nur wirken diese Faktoren indirekt und diskret im biologischen Phänomenbereich. Sie können nicht von Sprache, und damit auch nicht von intersubjektiver Konstruktionsleistung gelöst betrachtet werden. Jede Biologie ist immer schon versprachlichte Biologie. Zu behaupten, dies verliefe irgendwie anders als in Sprache, zeugt von besagter Naturalisierung kultureller Sachverhalte. Auch medizinische Definitionen des Erbrechens sind damit kulturelle Konstrukte, die zwar Bezug nehmen auf ein biologisches Phänomen, aber von der Sprache, in der sie formuliert sind, nie getrennt werden können.
Kotzen als Protestkultur
Bei Wikipedia heißt es weiter, dass „Erbrechen […] ein natürlicher Reflex zur Vermeidung von Vergiftungen“ sei. Schaut man sich die politischen Unsäglichkeiten dieser Tage an, die ja durch toxische Mentalitäts-, Sozialisations- und Erziehungsdispositive in die Menschen gekommen sind, verwundert es nicht, dass sich Erbrechen als sprachlich-gedanklicher Reinigungsprozess geradezu kultivieren muss. Ergebnis dieses Kultivierungsprozesses könnte eine Protestkultur sein, die sich durch den Rekurs auf medizinische Kategorien speist. Die Menschen sind es offensichtlich leid, kulturbedingte Vergiftungen durch normative Sozialverhältnisse über sich ergehen zu lassen. Der Reflex ist nicht neu.
Schon Hippokrates von Kos (460-370 v. u. Z.) war der Überzeugung, dass Erbrechen als geeignetes Heilmittel gegen Geisteskrankheit dienen könne.6 Den Gedanken findet man auch später in der Praxis der Bader, bei der es nicht nur um Hygiene ging, sondern auch um eine ärztliche Tätigkeit. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde mittels Aderlass und Abführmitteln diätetisch das Erleichtern und Erbrechen zur Therapie erklärt. Was damals als ‚induziertes Erbrechen‘ heilkundlich empfohlen wurde, scheint mir heute kulturell überformt im „Face Vomiting“-Emoji Ausdruck zu finden. In Gestalt eines ikonografischen Kommentars könnte das Emoji allemal als symbolisches Heilmittel gegen mediale, politische und kulturelle ‚Geisteskrankheiten‘ dienen. Mindestens als entlastendes Mittel gegen allzu starke Vergiftungen des Denkens und der Sprache scheint der heilkundlich-symbolische Akt des Kotzens aber an wachsender protestkultureller Bedeutung zu gewinnen, was dann auch die dringlichen Fragen unserer Zeit berührt: Statt mit Rechten zu reden (was ohnehin nicht funktioniert), könnte man ihnen einfach vor die Füße kotzen.
Kulturtechniken werden gemeinhin Konzepte zur Bewältigung von Problemen in verschiedenen Lebenssituationen genannt. Die kulturelle Leistung besteht dabei in der Umgestaltung der zuvor problematischen Umstände, die manchmal technisches Können, manchmal symbolische Handlungen erfordern, in jedem Fall aber ein komplexes Zusammenspiel von verschiedenen Aspekten darstellen, symbolisch, medizinisch, sprachlich usw.
Interessant in dem Zusammenhang ist auch die aktuelle Alzheimer- und Demenz-Forschung. Genetisch veränderten Labormäusen, die Alzheimer-ähnliche Symptome zeigten, wurde ein längst vom Markt genommenes Präparat gegen Übelkeit, Erbrechen und Schwindel mit dem Wirkstoff Thiethylperazin verabreicht. In gerade einmal vier Wochen reduzierten sich die Eiweißablagerungen in den Gehirnen der Mäuse um 75%.7 Es geht also auch andersherum.
Eine vor diesem Hintergrund erdachte Kulturtechnik des Erbrechens scheint auch immer den ‚ganzen Menschen‘ zu fordern. Der Brechreflex wird nämlich durch den Nervus glossopharyngeus und den Nervus vagusim im Gehirn aktiviert, um anschließend Nerven und Muskeln in den Atemwegen, im Bauch und im Zwerchfell anzuregen. Etwas vereinfacht dargestellt: Fürs Kotzen ist Kopf, Bauch und manchmal auch Hand vonnöten. Letztere, um das schwallartige Vomitat, das den Menschen durch den Mund verlassen will, in eine halbwegs hygienische Bahn lenken zu können. Der Reflex führt ja durchaus die Hände vor den Mund, die im Übrigen schnell abgewaschen sind, Schuhe, Hüte oder Rucksäcke, die gerade zur Hand waren, dagegen eher nicht.
Zieht man das (Online-)Wörterbuch Pschyrembel zurate, werden die Gemeinsamkeiten von medizinischen Ursachen des Erbrechens und den Ursachen für das Kotzen als Kulturtechnik an der Dimension der sogenannten „psychogenen Ursachen“ deutlich. Insbesondere Ekel als psychovegetative Reizreaktion, bei der die menschliche Wahrnehmung eine besondere Rolle spielt, ist anschlussfähig an die Deutung eines körperlichen Würgereflexes, der sich auch ästhetisch bei der Lektüre von unsäglichen Wörtern, Sätzen und Beiträgen zeigt. Und da Wahrnehmung, vor allem Geruchs- und Geschmackssinn nie ‚neutral‘ vonstatten gehen, sondern immer schon gefärbt sind durch die Biografie und den je individuellen sprachlich-kulturellen Realitätstunnel, zeigt sich auch, wie oben zitierte Sätze erst Ekel, dann Brechreiz auslösen können – auch völlig ohne physikalisch nachweisbaren Geruch und Geschmack.
Der Brechreiz in der psychovegetativen Dimension ist also eine höchst individuelle Angelegenheit. Das bezieht sich natürlich auch auf Sehgewohnheiten. Ein Beispiel: Manche Betrachter*innen sehen in Abb. 1 bis 3 möglicherweise eine Ansammlung stattlicher und erfolgreicher Männer auf der Höhe ihrer beruflichen Potenz, andere – mich eingeschlossen – dagegen ein strukturelles Problem und eine bedrohliche Zukunft gleichermaßen. Beides stellen Reize dar, die mir den sauren Geschmack in die Speiseröhre hinaufholen.
Abb. 1: Die Besetzung des aktuellen Präsidiums des ADAC, 2019.
Abb. 2: Die „Führungsmannschaft“ des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat, 2019.
Abb. 3: Die Besetzung des aktuellen Präsidiums des IHK, 2018.
Erbrechen scheint überdies ein Dauerthema männlicher Sozialisation zu sein. Wer kennt sie nicht, die zahlreichen adoleszenten Kotzabenteuer während Klassenfahrten und Sommerferien oder auf Dorf- und Straßenfesten? Bis heute gelten sie in ihrer toxischen Form in Burschenschaften und Verbindungen immer noch als Orientierung und Struktur gebende Initiations- und Zugehörigkeitsrituale. Was den einen dumpfe Tradition ist, ist den anderen bildungsbürgerlicher Kanon, denn auch in der Literaturgeschichte wird ordentlich gekotzt. Auffällig viele Autoren schreiben übers Kotzen. Einmal, weil sie auf bestehende Umstände reagieren, oft aber auch, weil sie einfach besoffen sind.
Kotzen in Kunst und Religion
Nicht erst heute ist das Kotzen von kulturell-künstlerischer Bedeutung. Schon im antiken Griechenland widmete man sich dem Erbrechen. Antike Vasen und Mosaike belegen verschiedene kunsthandwerkliche Ausgestaltungen „schwallartiger Entleerungen“ (s. Abb. 4), die insbesondere im Kontext von Symposien, an denen in der Regel nur Männer teilnahmen, eine Rolle spielten.8 Interessant ist, dass offenbar auch die Entleerung der Blase als ein Erbrechen des Penis bezeichnet wurde, was weitere Abbildungen auf Vasen belegen und die These vom männlichen Dauerthema stützt. In Bezug auf das Erbrechen kann sogar von einer Kontinuität der fäkalästhetischen Auseinandersetzung von der Antike, über das Mittelalter, bis in die Neuzeit gesprochen werden. Die Phallozentrik taucht als sich erbrechender Penis dann in der Renaissance bei Montaigne wieder auf.9
Abb. 4: „Das Schaleninnenbild wirkt auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich, da Darstellungen sich erbrechender Symposiasten oder Komasten in der attischen Vasenmalerei geläufig sind. Was aus heutiger Sicht als Grenzüberschreitung gilt, war (als Kunst der Magenerleichterung) eine verbreitete Praxis des regulierten Trinkens beim Symposion.“ (vgl. Attula 2006) / Randschale des Brygosmalers um 490 v. Chr. / © Internationales Forschungsprojekt Corpus Vasorum Antiquorum (CVA).
Auch medizinische Überlegungen zum Erbrechen sowie zu allen Arten an Körperflüssigkeiten sind ebenso aus Renaissance und früher Neuzeit bekannt und verweisen erneut auf Aristoteles. Der mährische Wunderheiler und Hauptvertreter der sogenannten Hausväterliteratur Andreas Glorez schreibt im dritten Kapitel seines volkstümlichen Standardwerks der Haus- und Landwirtschaft Eröffnetes Wunderbuch um 1700:
So stinkend und unrein nun dieser Dreck ist, so kann er doch wegen seiner
magnetischen Natur und Eigenschaft billig der kleine Weltmagnet (Magnes
microcosmi) genannt werden, indem er eine magnetische Salbe (Unguentum
Sympathicum) zu Heilung der Wunden und Schäden gibt, wie dann die
Excremente oder unreinen Auswürfe des Menschen in ihrer Natur und Art
eine große Kraft haben. Aristoteles gibt diesen Unterricht: Daß auch in den
Excrementis, oder salvo honore in den verdauten Speisen und Unflath des
Lebens Anfang stecken könne. Daß im Stuhlgang noch eine gute feuchte
Nahrung vorhanden sey, vermerken wir an den Schweinen, welche mit
großer Begierde, denselben zu verschlingen, hinzu laufen.10
Das Kapitel, aus dem hier zitiert wurde, trägt übrigens den Titel Was des Menschen Stuhlgang, Rotz, Ohrendreck, Speichel, Schweiß und andere unreine Auswürfe, auch die Muttermilch vor eine magnetische Kraft zu Erhaltung oder Wiederbekommung der Gesundheit bei sich haben.
Nicht nur Wörter, Sätze und Literaturen lösen Brechreiz aus, auch Bilder. Unbewegt oder bewegt, Bilder stellen vielleicht sogar die rezeptiv niedrigschwelligste Weise dar, den körperlichen Effekt des Erbrechens auszulösen oder Brechmittel darzustellen. Am eindrücklichsten zeigt dies Millie Brown mit ihren Performances und Gemälden rund ums Kotzen. Wegen ihres glorreichen Auftritts zusammen mit Lady Gaga wurde sie fortan nur als „vomit artist“ bezeichnet. Im Interview mit dem Modemagazin SHOWstudio kommentiert die Künstlerin ihre Kunst:
I drink coloured milk – the process is not painful but after several hours of vomiting
it can take its toll, which is why I limit the number of colours I use. Artists (male as
well as female) have always been known to suffer for their art – although this does
tax my body to a degree, I feel the end result is worth the process. In fact I often
feel elated and purified after a performance. […] For me, puking colours is both
clean and cleansing.11
Auch Millie Brown hebt den reinigenden (‚cleansing‘) und läuternden (‚purified‘) Akt ihrer Kunst und des Erbrechens hervor. Was das individuelle Werk der Künstlerin spiegelt, kann also durchaus auch als Reaktion auf entsprechende Unsäglichkeiten in der Welt gedeutet werden. ‚Vomit Art‘ – eine neue Bewegung in der Gegenwartskunst?
Vielleicht sagt uns das aboutness (Danto) dieser Kunst zugleich auch etwas über den Grund, weshalb in den letzten Jahren die Gemeinde derer, die auf Ayahuasca schwören, enorm gewachsen ist. „Trinken, kotzen, Selbsterkenntnis“ preist der Markt der Religionen die Zeremonien rund um die halluzinogene Pflanze aus den Amazonaswäldern an.12 Entgegen der religionswissenschaftlichen Deutung, dass spirituelle Angebote neuer Religionen (die oft gar nicht so neu sind), eher apolitische und ahistorische Fluchtbewegungen in den Glauben an eine bessere Welt seien, könnte man diese Zeremonien doch auch – im Sinne einer Kulturtechnik des Kotzens – als entsprechend zeitgeist-antagonistische, religiöse Praxis begreifen. In diesem Fall wäre dann das Kotzen eine spirituelle Reinigung der Welt durch die „schwallartige Entleerung des Magen- oder Speiseröhreninhaltes entgegen der natürlichen Richtung“. Oder, wie man es bei George Bataille deuten könnte: Fäkalästhetik als mystischer Weg zu Gott.
In der Erzählung Meine Mutter (1966) schreibt der von Pornografie und Surrealismus gleichermaßen begeisterte Bibliothekar: „Auf dem Grunde meines Abscheus fühlte ich mich wie GOTT. Was hatte ich noch in dieser abgestorbenen Welt zu schaffen“13. Kritik an Personen, die für jene abgestorbene Welt voller Geisteskrankheit verantwortlich gelten können, übt dagegen Emil Cioran nicht nur mit der obligatorischen Rückgabe seiner literarischen Preise, sondern auch mit einem kleinen Aphorismus in Vom Nachteil, geboren zu sein (1973). Hier schreibt er: „Man möchte zuweilen ein Kannibale sein, nicht um den oder jenen aufzufressen, sondern um ihn auszukotzen.“14 Das toppt dann Bataille wieder, in dem er in Der Tote (1967) das fäkalästhetische Trägermaterial, diese ‚kleinen Weltmagneten‘, kombiniert, um die anschließende Erleichterung zu verdoppeln:
Als sie stand, schwankte sie.
Sie schrak zurück, blickte den Grafen an und erbrach sich.
– Siehst du, sagte sie.
– Erleichtert? fragte der Graf.
– Nein, sagte sie.
Sie sah das Erbrochene vor sich.
[…]
Sie hockte sich hin und schiß auf das Erbrochene.15
Bataille soll ja auch gesagt haben, „ich schreibe, damit die Leute kotzen“. Der Kreis schließt sich. Wörter, Sätze, Literaturen, die die Welt versuchen einzufangen, können nicht nur Auslöser des Erbrechens sein, das Kotzen kann selbst auch Ziel des Schreibens werden.
Vergleichbare literarische Ein- und Auslassungen seitens Autorinnen kommen nicht so häufig vor. Eine Ausnahme bildet vielleicht Ingeborg Bachmanns Erzählung Unter Mördern und Irren (1961). Wir finden hier zwar – wie bei Cioran und Bataille – auch das Motiv des Reagierens auf die Unsäglichkeiten der Welt wieder, wenn Bachmann die Figur Friedl sich nicht bloß wegen seines hohen Alkoholpegels übergeben lässt. Überaus treffend ist aber der ganze Kontext der Erzählung, die „zehn Jahre nach dem Krieg“ in einem Wiener Wirtshaus spielt. Eine „Herrenrunde“ bestehend aus jüngeren und älteren Kulturfunktionären trifft sich zu einem zünftigen Stammtisch (einem „Symposion“). Die jüngeren unter ihnen verstehen nicht, weshalb diesem „Bund“ sowohl Nazis und Mitläufer als auch ein Jude angehören, dessen Familie in der Schoah ermordet wurde.
Friedl wimmerte, richtete sich auf und schwankte zur nächsten Klosettür.
Ich hörte, wie er sich erbrach, gurgelte und röchelte und dazwischen sagte:
„Wenn das doch alles heraufkäme, wenn man alles ausspeien könnte, alles, alles!“
Bachmann zeigt mit der Erzählung wie die Täter- und Opferrollen der grauenvollen, jüngeren Geschichte durch die Struktur des viel älteren, chauvinistischen und misogynen Stammtischs, dieser „Welt aus Eulenpiegeleien, Mutproben, Heroismus, Gehorsam und Ungehorsam, jene[r] Männerwelt“16 verschwimmen, um dem bürgerlichen Gebilde aus Scham und Ruhm zu entsprechen. Ganz gleich, wie herum man es also dreht, die gedanklichen Kreisbewegungen dieses Essays zeigen: Es geht nicht nur in eine Richtung. Kotzen als Kulturtechnik wendet sich spiralförmig auf den Ebenen der Sprache, der Biologie, Medizin, Kunst und Religion gegen die ‚natürlichen Richtungen‘ ebenso wie sie auch vice versa, kreuz und quer, gedacht werden kann. Das ist der Vorteil von Bewegung, die in diesem besonderen Fall deutlich macht, dass das Kotzen Grund, Wirkung und Aufgabe dieses Teils menschlicher – nicht nur männlicher – Weltkonstruktion sein kann und heute vielleicht sogar sein muss.
- 1. Der vollständige Name dieses Zeichens lautet „Face With Open Mouth Vomiting“ und hat den Unicode 1F92E.
- 2. Czollek, Max: Desintegriert euch! Hanser: München, 2018. S. 49, 55.
- 3. Aristoteles: Poetik. Hier zitiert nach der Ausgabe auf digbib.org (Letzter Zugriff: 07.07.2019).
- 4. Vgl. den Wikipedia-Eintrag zu „Erbrechen“ (Letzter Zugriff: 04.07.2019). Ähnliches ist auch im medizinischen Onlinewörterbuch Pschyrembel zu lesen (Letzter Zugriff: 04.07. 2019).
- 5. Siehe Straub, Jürgen: Identitätstheorie, empirische Identitätsforschung und die „postmoderne“ armchair psychology. In: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 1 (2000). S. 169, 172. Für einen umfassenden Überblick über die aktuelle empirische, soziologische sowie sozialpsychologische Identitätsforschung, auch im Hinblick auf heutige Identitätspolitiken, vgl. Eickelpasch, Rolf / Rademacher, Claudia: Identität. Bielefeld: transcript, 2013.
- 6. Vgl. Bangen, Hans: Geschichte der medikamentösen Therapie der Schizophrenie. Berlin: VWB, 1992. S. 13.
- 7. Vgl. ratgeber/gesundheit/gedaechtnisgift-ausschleusen (Letzter Zugriff: 28.08.2019
- 8. Vgl. Attula, Regina: Das Alter Ego des Symposiasten? Zu einem attischen Schalenfragment in Greifswald. In: Forum Archaeologiae. Zeitschrift für klassische Archäologie 41, XII (2006). (Letzter Zugriff: 07.07.2019).
- 9. Zur Überblendung von Kotzen und Urinieren bzw. Ejakulieren vgl. Montaignes Essais III. 5, Sur des vers de Virgile, wo er die Entleerung der Gefäße als Erleichterung und Lust an sich beschreibt.
- 10. Aus: Glorez, Andreas: Des Mährischen Albertus Magnus, Andreas Glorez, Klostergeistlicher und Naturkundiger. Regensburg und Stadtamhof: 1700 [Nachdruck Freiburg am Breisgau 1979], S. 68-82. Hier zitiert nach der Ausgabe auf zeno.org (Letzter Zugriff: 25.07.2019).
- 11. Die Originalquelle ist im Netz nicht mehr verfügbar. Dasselbe Zitat ist aber noch bei huff post / "Millie Brown Vomits To Create Art" zu finden (Letzter Zugriff: 25.07.2019) zu finden.
- 12. Vgl.taz.de/Selbsterfahrungstrip-mit-Ayahuasca (Letzter Zugriff: 25.07.2019).
- 13. Bataille, George: Meine Mutter. In: ders.: Das obszöne Werk. Reinbek: Rowohlt, 2012. S. 89.
- 14. Cioran, Emil: Vom Nachteil, geboren zu sein. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979, S. 132
- 15. Bataille, George: Der Tote. In: ders.: Das obszöne Werk. Reinbek: Rowohlt, 2012. S. 215f.
- 16. Bachmann, Ingeborg: Unter Mördern und Irren. In: Das dreißigste Jahr. München, Zürich: Piper, 2010. S. 82, 101, 94.
Fixpoetry 2019
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben