Orhan Pamuk übers Romanschreiben
Im Jahr 2009 hielt der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk die Charles Eliot Norton Lectures an der Harvard University. Seine Vorlesungen über die Theorie des Romans sind nun unter dem Titel „Der naive und der sentimentalische Romancier“ bei Hanser erschienen
„Romane sind wie ein zweites Leben“ behauptet Pamuk in der ersten seiner sechs Vorlesungen unter dem Motto „Was unser Verstand tut, wenn wir einen Roman lesen“. Dabei geht er davon aus, dass der Leser die Romanhandlung während des Lesens einerseits für real hält, ihm andererseits seine Sinne versichern, dass es sich um Fiktion handelt. Dieses Paradox sei in Kern des Romans, auf den der Autor hinsteuert, indem er versucht, die Haltung des Lesers beim Schreiben vorwegzunehmen. Er könne das auf zwei Arten tun: die naive und die sentimentalische. Die Begrifflichkeit geht auf einen Aufsatz von Schiller zurück, den Pamuk in seiner Jugend las, noch vor „Cevdet und seine Söhne“, und der nicht unwesentlich zu seinem Entschluss beigetragen haben soll, Schriftsteller statt Maler zu werden.
Was steckt dahinter? Nach Schiller ist der naive Romancier einer, der sich wie von selbst in seine Handlung und seine Figuren hineinfindet, sie als etwas Reales in der Fiktion begreift und dadurch einen natürlichen Weg zum Leser findet, indem er lebensnahe Anknüpfungspunkte zu im herstellt – eben dieses „naive“ Talent soll Schiller bei Goethe sehr bewundert haben, während Schiller selbst sich als „sentimentalisch“ einordnete: als einen Romancier, der seinen Stoff vor einem intellektuellen Aussagehintergrund formt und dieser Intention Figuren und Handlung unterwirft, seine Geschichte also im Wortsinn konstruiert.
Die besten Romanciers, so Pamuk, seien jene, die naiv und sentimentalisch zugleich seien. Er nennt Tolstoi als Beispiel und führt, um seine Theorien zu demonstrieren, immer wieder jene Szene an, in der Anna Karenina im Zug nach St. Petersburg sitzt – eine Szene, die einerseits kalkuliert wesentliche Elemente des Romans transportiert, andererseits die Figur dem Leser auf einer nachfühlbaren Ebene glaubhaft, ja real erscheinen lässt. Dabei gehe es sowohl Autor und auch Leser darum, das „Zentrum“ des Romans ausfindig zu machen, womit er das Kernthema, die Prämisse meint, um die sich die Handlung dreht, und die im besten Fall einen Aspekt des Lebens in neuer Form greifbar, sichtbar macht.
Das Schön an Pamuks Text ist, dass er sich fernhält von schwer verdaulicher Sprache der Literaturwissenschaft, dass er seine Theorien immer auf die Ebene des Lesens, also des direkten Erlebens und Nachvollziehens herunterbricht und den (vorgebildeten) Leser dort abholt, wo er steht. Deshalb ist es unterm Strich ein Buch, das längst nicht nur für Romanautoren und Wissenschaftler interessant ist, sondern auch für Leser, die tiefer in den Entstehungsprozess des Romans eintauchen wollen. Zudem gibt der Text zahlreiche Hinweise auf weiterführende Lektüre, mit der sich das Thema vertiefen lässt.
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