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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Der Tischler kaute die Rinde und dachte nach

Hamburg

Das zweite Hauptwerk nach Der Baugrube Andrej Platonows, der monumentale Roman Tschewengur wurde ebenso wenig zu dessen Lebzeiten publiziert (geschrieben 1927-1929) wie im Grunde fast alles des sprach- und systemkritischen Dichters und Erfinders. Im letzten Jahr bei Suhrkamp erschienen, mit Nachworten und Dialog zwischen den Platonow-Staunern Dževad Karahasan und Ingo Schulze versehen, und neu durchgesehen von der Erstübersetzerin Renate Reschke, hat es nichts an Frische eingebüßt, sondern im Gegenteil, es überfordert noch heute. Zu dicht ist die Sprache, zu „willkürlich“ die episodische, fast reihenfolgelose Handlung um den Steppenort Tschewengur, wo der „Kommunismus schon Einzug gehalten haben soll“. Eine solitäre Mischung aus Bibelversatz, Steppenkolorit, sprachlicher Extremsatire, brutaler Utopistenchronik und ganz einfach fantastischem Experimentalfilm im Breitwandformat, ist Tschewengur nur mit einer gewissen Offenheit zu goutieren, zu wenig ist Platonow gewillt, eine Geschichte zu erzählen. Gewiss verändern sich alle Figuren und erfüllen oder erlaufen sich ihr Schicksal und es gibt Anfang und Ende, doch verzählt sich die Fabel permanent in utopischen Sprachregistern, scheut keine Länge, absurde Dialoge, und, wie die beiden Stauner am Ende im Nachwort feststellen, „keine einzige Figur handelt auch nur im Ansatz psychologisch in irgendirdener Weise“. Also: lyrischer Zugang weht nicht weit fort von diesem Epos der Überfordernis der Realität durch Ideen.

Das Buch soll für sich selbst sprechen, an in sich schlüssigen und abgeschlossenen Episoden übervoll:

Sachar Pawlowitsch blieb allein im Dorf, ihm gefiel die Menschenleere. Aber meist lebte er im Wald, in einer Erdhütte zusammen mit einem Einsiedler, und ernährte sich von Kräutertee, dessen Nützlichkeit der Einsiedler schon früher herausgefunden hatte.
Sachar Pawlowitsch arbeitete ununterbrochen, um den Hunger zu vergessen, und lernte, aus Holz all das zu machen, was er früher aus Metall gemacht hatte. Der Einsiedler hatte sein Leben lang nichts gemacht, und jetzt machte er erst recht nichts: Bis zu seinem fünfzigsten Jahr hatte er umhergeschaut und abgewartet, was letzten Endes bei der allgemeinen Unruhe herauskommen würde, um sofort tätig zu werden nach Beruhigung und Klärung der Welt; er war überhaupt nicht besessen vom Leben, und so konnte er sich weder zur weiblichen Ehe entschließen noch zu allgemeinnützlichen Tätigkeit. Auf die Welt gekommen, hatte er sich gewundert und so bis ins Alter gelebt mit blauen Augen im jugendlichen Gesicht. Als Sachar Pawlowitsch eine Pfanne aus Eichenholz fertigte, war der Einsiedler verblüfft, weil man darin sowieso nichts braten konnte. Sachar Pawlowitsch aber goss Wasser in die Holzpfanne und brachte es bei langsamem Feuer zum Kochen, ohne dass die Pfanne anbrannte. Der Einsiedler war starr vor Staunen:
„Eine gewaltige Sache. Mein lieber Mann, wie soll man auf das alles kommen!“
Und er ließ die Hände sinken angesichts der umwerfenden allgemeinen Geheimnisse. Niemand hatte ihm je die Einfachheit der Ereignisse erklärt, vielleicht war er auch nur zu unbedarft. In der Tat, als Sachar Pawlowitsch ihm zu erzählen versuchte, warum der Wind wehte und nicht auf der Stelle stand, staunte der Einsiedler nur noch mehr und begriff nicht, obwohl er das Entstehen des Windes genau fühlte.
„Wirklich wahr? Sag bloß! Also von der Sonnenwärme? Wie schön!“
Sachar Pawlowitsch erklärte, die Sonnenwärme sei nicht schön, sondern ganz einfach Hitze.
„Hitze?“, staunte der Einsiedler. „Sieh mal an, so eine Hexe!“
Das Staunen des Einsiedlers wechselte nur von einem Ding aufs andere, doch nichts verwandelte sich in Bewusstsein. Statt mit dem Verstand lebte er mit dem Gefühl vertrauensvoller Achtung.

Etwa so wie dieser Einsiedler, den Platonow nur wenige Seiten später sterben lässt, verhalten sich nahezu alle Figuren, der Unterschied ist, dass manche sich zusätzlich etwas auf sich einbilden oder das Achtvolle durch das Machtvolle ersetzt haben. So der unvergessliche Kopjonkin, ein martialischer Roter Krieger, der auf seinem riesigen Pferd namens Proletarische Kraft, (ganz recht), davon träumt, das Grab Rosa Luxemburgs aufzusuchen und wie Don Quijote von einer Groteske in die nächste galoppiert, Proletarische Kraft fängt bei dem Befehl „Rosa!“ sofort zu laufen an. Er und das Figurenensemble treffen aus unterschiedlichen Gründen in Tschewengur ein, erleben ein einziges Verheddern und Zersetzen, während die „glückliche Zukunft bereits angebrochen ist. Häuser und Gärten sich hin und her schieben lassen, und die Sonne zu ewiger Arbeit mobilisiert worden ist.“

Man begegnet Kondajew, der „gern Hühner abtastete“, und dies ausgiebig tut, außerdem dem „zufällig erwärmten Fußgänger“ und auch Gott:

Am Morgen aß Dwanow im Dorfsowjet Hirsebrei und sah von neuem Gott. Der lehnte den Brei ab: „Was soll ich damit“, sagte er, „wenn ich ihn esse, werd ich trotzdem nicht für immer satt.“
Der Sowjet verweigerte Dwanow ein Fuhrwerk, und Gott zeigte ihm den Weg zum Dorf Kawerino, von wo es bis zur Eisenbahn zwanzig Werst waren.
„Du wirst an mich denken“, sagte Gott und bekam einen bekümmerten Blick. „Wir trennen uns jetzt für immer, und wie traurig das ist, wird niemand verstehen. Von zwei Menschen bleibt jeder für sich! Aber merk dir, ein Mensch wächst von der Freundschaft eines andern, ich dagegen wachse allein aus dem Lehm meiner Seele.“
„Darum bist du Gott?“, fragte Dwanow.
Gott sah ihn traurig an wie jemanden, der ein Faktum bezweifelt.
Dwanow schlussfolgerte, dass dieser Gott klug war, nur verkehrt herum lebte; aber ein Russe – das ist ein Mensch der zweiseitigen Tätigkeit: er kann so leben und umgekehrt und bleibt in beiden Fällen ganz.

Jener Dwanow ist eine zweite, natürlich tragische, Hauptfigur des Romans. Ebenfalls in die Steppe gereist, um genau zu schauen, – wohl ein kleines Selbstportrait Platonows. „Viel Gutes war an Dwanows engem armem Verstand vorbeigegangen, sogar das eigene Leben floss oft um seinen Verstand herum, wie ein Fluss um einen Stein.“ Durchaus ahnungsvoll, sollte Platonow bis zu seinem Tod ständigen Anfeindungen und quasi totalem Publikationsverbot gegenüberstehen. Inklusive höchstpersönlichen Verrissen von Maxim Gorki und auch Stalin selbst, beiden entging die krasse Skepsis des Schriftstellers (natürlich) nicht, Gorki wohl auch nicht die Qualität, aber, aber ---

Passagen wie die folgende, besonders in Anbetracht dessen, was genau in Tschewengur vorgefunden wird, sind selbstredend ein Manna verspritzendes Löffelkind unterhalb jeder Tabuzone:

„Wir werden dort den ganzen Kommunismus vermessen“, legte er dar, „werden eine genaue Zeichnung von ihm anfertigen und in die Gouvernementsstadt zurückkehrten; dann wird es leicht sein, den Kommunismus auf dem gesamten Sechstel der Erdkugel zu machen, denn in Tschewengur geben sie uns die Schablone in die Hand.“
Dwanow dachte schweigend an Kopjonkin und seinen mündlichen Brief: „Kommunismus und umgekehrt.“

Von allen drei bisherigen Wiederveröffentlichungen ist Tschewengur die unzugänglichste, aber vielleicht gerade deswegen die lohnendste. Hier ist der Erzähler Platonow in Reinkultur, ohne jeden Manuskriptklau mit einem zu Ende komponierten Meisterwerk, dessen erzählerische „Schwächen“ nur effizienten LeserInnen ein Dorn im Auge sein dürften.

Zum Geleit ein Morgen mit Kopjonkin:

Kopjonkin gefiel der Dunst und der Rauch und die unbekannten ausgeschlafenen Menschen.
„Eine Herzensfreude!“, sagte er zu sich, und die Kälte prickelte im Nacken wie aufreizende Brotkrümel.
Mitten im Lichtstreifen stand ein ferner deutlicher Mensch und kratzte sich den Kopf.
„Ausgerechnet hier muss er sich kratzen!“, verurteilte Kopjonkin den Menschen. „Bestimmt hat er dort was zu tun, wenn er in der Frühe mitten auf dem Feld steht und nicht schläft. Ich reite mal hin und lass mir seine Papiere zeigen – dem Kerl jag ich einen Schreck ein!“
Aber Kopjonkin wurde enttäuscht – der Mensch, der sich im Morgenlicht gekratzt hatte, wies keinerlei Taschen oder Schlitze auf, wo die notwendigen Papiere aufbewahrt sein könnten. Kopjonkin hatte ihn nach einer halben Stunde erreicht, als das Sonnenlicht schon über den ganzen Himmel rauschte. Der Mensch saß auf einem trockenen Hügel und polkte sich mit den Fingernägeln sorgfältig den Schmutz aus den Körperspalten, als gäbe es auf der Erde kein Wasser zum Graben.
„Organisier mal so einen Teufel!“, sagte Kopjonkin zu sich und fragte nicht nach den Papieren, denn ihm war eingefallen, dass er selbst außer Rosa Luxemburgs Bild, eingenäht in der Mütze, keinerlei Dokumente hatte.

Andrej Platonow
Tschewengur - Die Wanderung mit offenem Herzen
Übersetzung:
Renate Reschke
Suhrkamp
2018 · 581 Seiten · 32,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42803-0

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