Kritik

Postmodernes Hänschen?

Historische Kinderlieder in neuem Gewand
Hamburg

Kinderlieder aus dem 19. Jahrhundert, und das bei kookbooks, dem Berliner Verlag mit dem ausdrücklich jung-innovativen Image? Da darf man gespannt sein. Ein nostalgisches Reprint á la „Häschenschule“ ist nicht zu erwarten, und wie man den Band in die Hand nimmt, ist sofort klar, dass eine Erwartung in dieser Richtung entschlossen konterkariert wird. Bereits auf dem Cover wirbeln skurrile grafische Elemente lose umher, der Titel verläuft senkrecht und ist in einer eckigen, technisch-computerig anmutenden Schrift gehalten, die man  für Geschichten von Robotern und Weltraumabenteuern zu verwenden pflegte. Der Innentitel kommt erst nach dem ersten Textabschnitt und versammelt in einem kakeligen Notenlinien-Strauß die Namen des Gestalter-Teams, wobei der Liedkomponist Taubert keineswegs die hervorgehobene Stellung hat.

Zusammen mit dem Illustrator Andreas Töpfer, dem musikalischen Leiter der Aufnahme Kai-Uwe Jirka, der Verfasserin der Zwischentexte Monika Rinck und der Komponistin Katia Tchemberdji ist hier offenbar ein vergnügliches Gesamtkunstwerk entstanden. Es gibt keine Seitenzählung und keine Jahresangabe, doch annonciert der Verlag, dass das Buch anlässlich des 200. Geburtstags von Wilhelm Taubert erschienen ist, also 2011.

Beim Blättern im Buch fällt gleich auf, dass der Illustrator kein schmückendes Beiwerk geliefert, sondern als einer der Hauptmitwirkenden alle grafischen Register gezogen hat: witzige Collagen spielen mit möglichen und unmöglichen Notenlinien-Bruchstücken und grotesken Zeichnungen, auch hier und da eingefügten klassischen Vignetten. Ein dreieckiger Hahn, Hühner aus Kreuzworträtsel-Elementen, Turnhallen-Pferde ohne Kopf, die über ein altmodisches Kontoblatt galoppieren: so frech wie möglich kommt das alles daher und vermeidet von vornherein jeden Anklang an eine süßlich-niedliche Kinderstuben-Welt. Das Notenbild ist mit bunten Partien in die Illustration einbezogen.
In einem verbindenden Text tritt der Wind als Moderator auf, stellt sich selbstbewusst vor und kündigt die Lieder mit lässig-schnodderigen Kommentaren an. So entsteht eine Art Hörspiel um die 16 eingebetteten Lieder, eine sinnvolle Idee.

Nun aber zu den Liedern selbst! Schon beim ersten Anspielen am Klavier zeigt sich: zum Singen für den Hausgebrauch sind die Melodien trotz der kindlichen Aura offenbar nicht gedacht. Manche füllen eine ganze Seite mit bis zu 15 Notenzeilen; oft reichen sie als kleine lebhafte Szenen über die schlichte Periodik von Volksliedern hinaus. Es gibt schwierige Tonfolgen, z.B. der verminderte Quartsprung im Krähen des Hahns – reizvoll, aber ein Hindernis für ungeübte Kinderstimmen. Die Aufnahme der beigefügten CD stellt denn auch sofort klar, dass hier Profis am Werk sind, und entführt uns akustisch in eine Konzertatmosphäre. Geschulte Kinderstimmen der Berliner Singakademie und des Staats- und Domchores, ein Bariton-Solist (Sebastian Noack) und Orchesterklänge mit allen Schikanen eröffnen ein reiches musikalisches Panorama. Die Komponistin Katia Tchemberdji hat die ursprüngliche Klavierbegleitung virtuos und mit inspiriertem Witz orchestriert und verteilt Solo- und Chorpassagen zu wirkungsvollen kleinen Opernszenen. Das wäre  bestimmt im Sinne des Komponisten gewesen, dessen Kinderlieder von damals bekannten Sängerinnen, darunter der weltberühmten Jenny Lind, vorgetragen wurden.

Zu Wilhelm Taubert hier einige Angaben des Verlags:

Der als enger Freund von Felix Mendelssohn und als früher Förderer Richard Wagners bekannte Berliner Hofkapellmeister Wilhelm Taubert (1811-1891) brillierte in fast allen musikalischen Gattungen, den größten Ruhm erlangte der gefeierte Komponist, Pianist und Dirigent jedoch durch das Komponieren von Kinderliedern. Seine über 300 Kompositionen erschienen in diversen Alben, jeweils als »Klänge aus der Kinderwelt« betitelt, und fanden Eingang in Kinderstuben von St. Petersburg bis Lissabon. Wegen ihrem weit über das rein Kindgemäße, Pädagogische hinausweisenden Kunstliedcharakter wurden sie aber auch in den Konzertsälen gespielt: als romantische Piecen, die unvermittelt etwa zwischen Beethovens Egmont-Ouvertüre und einer Sinfonie Mendelssohns stehen konnten.

Ich frage mich allerdings, ob und wie die Lieder damals in die Kinderstuben Eingang finden konnten, ohne die heutigen technischen Reproduktionsmöglichkeiten. Mit Papa als Kapellmeister und Mama als Sängerin vielleicht. Heutzutage erscheint ja kaum das schlichteste Liederbuch ohne CD; im vorliegenden Fall ist sie aber unentbehrlich.

Was ist nun mit den Liedtexten: werden sie heutigen Kindern noch etwas sagen? Denn die moderne Verpackung kann ja nicht darüber hinwegtäuschen, dass Themen und Stil reinstes 19. Jahrhundert sind: es wimmelt von Häselein, Mäuselein, Kätzelein und Vögelein; der Herr Hahn tritt auf, der Butzemann, die Maikäfer, und die Buben heißen Hänschen – so war das halt damals. Niedliche Miniatur-Dramatik, auch einmal putziger Nonsense und kleine moralische Ermahnungen. Die Zwischentexte von Monika Rinck fangen einiges auf und bürsten es gegen den Strich. So wird etwa „Das bucklige Männle“ folgendermaßen angekündigt: Reißt jetzt Kellertür und Gartentörchen auf für meinen guten Kumpel und Kollegen von der Firma „Überraschendes Erscheinen und Rumoren“, begrüßt mit mir Das Bucklige Männle! Ob der leicht friedenspädagogische Touch im Kommentar zu dem Lied „Kriegslärm“ nötig ist, sei dahingestellt. Ein witziges Lied aus dem Umfeld der Knaben-Kriegsspiele mit hölzernem Säbel: der General ruft zum Kampf und keiner geht hin, bis auch er wegen schlechten Wetters zum Daheimbleiben rät. Spricht eigentlich für sich. Übrigens werden veraltete Ausdrücke wie „bivouakieren“, „Feldscher“ und „Scharpie zupfen“ nicht erläutert – historische Anmerkungen würden wohl den Stil des Buches stören. Und warum sollen Kinder nicht auch einmal eine fremd gewordene Welt zur Kenntnis nehmen? Über geringfügige Unebenheiten trägt jedenfalls durchgehend die spritzige Aufnahme hinweg, eine großartige Leistung der großen und kleinen Musiker. Lediglich das sängerisch gerollte Zungen-R wirkte auf mich ein wenig zu kunst- und opernmäßig im Verhältnis zu den kindlichen Worten und der frech-verrückten Aufmachung des Buches. Nicht immer entspricht das Notenbild genau der Ausführung; kleine Zwischenspiele kann es nicht zeigen. Man hätte sonst eine veritable Partitur gebraucht.

Das Ganze wurde im Dezember 2011 in Berlin als Advents-Kinderkonzert aufgeführt. Ob damals auch das eingeschmuggelte Kuckucksei der Sammlung als solches angekündigt wurde? Das vorletzte „Windschlaflied“ fällt nämlich mit seiner schrägen Chromatik, seinen Taktwechseln, seinem suggestiven Kreisen und dann wieder freien Parlando aus dem Rahmen: das kann doch nicht von Wilhelm Taubert sein? Ist es auch nicht, wie das Inhaltsverzeichnis auf dem rückwärtigen Cover diskret angibt: dies ist ein modernes Lied von Katia Tchemberdji und Monika Rinck, das der durchgehaltenen Wind-Thematik des Buches einen aparten Reiz hinzufügt.

Ich vermute, dass die launigen dramatischen Zwischentexte, die die Wind-Sprecherin Mechthild Grossmann mit ihrer tiefen Altstimme suggestiv als souverän-abgeklärte Tante (keine Märchentante) gibt, bei einer live-Darbietung am besten wirken. Beim wiederholten Hören der CD kannte ich das dann schon und wollte eher weiter zum nächsten Lied. Aber vielleicht sehen Kinder das anders. Spaß ist mit diesem Buch auf jeden Fall garantiert.

Wilhelm Taubert · Monika Rinck · Daniela Seel (Hg.)
Ich bin der Wind
Geschwinde Lieder für Kinder
Illustration: Andreas Töpfer
Kookbooks
2011 · 48 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-937445489

Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge