Ich find‘s hier prima!
Obwohl im Buchtext selbst und noch einmal im Nachwort als „das schönste Musical der Welt“ bezeichnet, ist Ronald B. Schernikaus monumentaler Roman Legende kein Montageroman (so das Nachwort) im herkömmlich geschlossenen Sinne, sondern tatsächlich eine kompilierte Revue mehrerer Einlagen genannter Nummern Schernikauscher bis dato (zuerst 1999) unveröffentlichter Werke, darunter Dramen, Monologe, Centos, auch tatsächliche Montagetexte, Einträge, Lovestories, ein Witzebuch, trashige wie nicht-trashige Gedichte etc. Das Gesamtopus Legende, nach zehnjähriger HerausgeberInnenarbeit 2019 publiziert, mit voluminösem Register und zwei Lesebändchen wie Infinte Jest zum Hin- und Herspringen geeignet, ist sein eigenes Genre. Man kann nicht sagen, es sei einfach zu lesen, es ist eine Herausforderng. Lohnend in vielen Schritten.
Die fast tausend Seiten sind extravagant, genial, kindisch, komisch, kritisch, drall und voll textualer Strenge. Schernikau starb mit nur 31 Jahren fast direkt nach Fertigstellung und hat die finale Drucklegung seines radikalen 80er Berlin-Panoramas nicht mehr erlebt. Die Fabel um die Götter, die auf die Insel (Berlin) niedergehen, die Schokoladenfabrik dort, die Bevölkerung dort, der queere Umblick dort, die Musik, die tatsächliche Grand Prix d’Eurovision-Verhandlung von Schernikaus Lieblingsstimmen (von Feuerbach über Sontag, mit ihren epochalen camp-Kriterien, zu Eartha Kitt, Eros Ramazotti und Irmtraud Morgner, von letzterer das Kompositionsprinzip der Legende nicht weniges adaptiert hat, und hunderttausend Fraktalen mehr) bis zur versöhnlichen Endverbeugung der Götter vor den Menschen und schließlich dem Kind, sind zehn Werkjahre Schernikau, sein Ende zunehmend vor Augen.
Der politisch umtriebige, belesene Jongleur-Autor erweist sich als Meister des verschobenen Sprechens, der Mündlichkeit und der Registerschnitte:
48 materialisierung von fifi kafau stino und
tete in den sitzen um janphilip drumrum. still-
stand der welt zwecks besprechung der lage.[...]
kinder, sagt fifi, gehenwer
[...]
ich bins, sagt trübsal: blas mich
Wie ein Tractatus nummeriert, läuft die mehrspaltige (Haupt-) Legende ab. Schernikau nutzt theatrales Politisches Sprechen, kombiniert mit betonungsgewirkten Umstellungen. Prinzipiell wie eine „Textlindenstraße“, voll manischer Nomenklatur, die jederzeit in alle Richtungen aufbrechen kann.
47 und unter ihn greift der mann und hebt
ihn, und zu sich dreht der mann ihn und ver-
gißt sich, und an den mann lehnt kathus.
48 und sich heraus nimmt der mann un-
glaubliches, und seine eichel in meinem mund
wächst sehr, und endlich tränen weint kathus.
49 weit wird der augenblick, der mann
nimmt ihn hoch zu sich hebt ihn über sich end-
lich fliegt mit ihm und ihn weg über alles die
stadt das geschäft und ihn und fliegt. und bei
den göttern sind ein wenig die beiden.[...]
8 boogie woogie. tango. shimmy. ska.
2 in dem feiernden kopierladen brechen die
wände auf und der boden. zwischen den men-
schen die götter sehen alles genau.
3 es gibt keine feier ohne die, denen zu fei-
ern verweigert wird.
In der Einlage DIE HEFTIGE VARIANTE DES LOCKERSEINS steht eines der vielen womöglichen Inselleben-Credo-Bonmots Schernikaus, der sich an vielen Stellen selbst in den Text hineinschreibt (Hm, wie mag es wohl weitergehen? Ich vermut mal...):
intimität im kühlschrank: die welt wegschmelzen.
oder an anderer Stelle:
8 denn natürlich ist epikur kein epikureer.
denn natürlich ist machiavelli nicht machiavel-
listisch. denn natürlich ist kafka nicht kaf-
kaesk.
9 die meisten autoren denken ja nicht, die
werden überflogen, ich bin ja bekannt für mein
superschnelles lesen: einzelheiten suchen,
wendungen, einen satz finden vielleicht, ein
neues detail.
So avanciert und radikal beinahe jeder Aspekt von Schernikaus sogenannter Prosa hier ist, so eigentümlich verhalten sind doch seine Gedichte. Zumindest die als „Songtexte“ kurz vor besagtem Grand Prix Rostock in der Legende abgedruckten, 1979-86. Aus ihnen spricht mehr noch ein Suchen, in zuweilen schüchtern deklamatorischen Posen/ Halten. Der Sprung in die Freiheit geschieht in Schernikaus Prosa.
am strand
am strand liegen mit irene und almut die mich siezt
und sagen: den ring hab ich von dagmar selig die tasche
von ingeborg selig das buch von sabine geliehn ich habe es nie
zurück gegeben wie es ihnen allen jetzt wohl geht.das glitzernde wasser um mich gegen das ufer zu ich
bin umgekehrt ich kann nicht mehr es ist hell
bald lieg ich wieder und höre irene erzählen mit almut
die augen zu. kommunismus ist immer urlaub.
Gegen Ende, wenn die Reflektionen zunehmen, Schernikau wohl schon die Krankheits-Diagnose klar war, ändert Legende langsam den Duktus und wird, wie auch das Nachwort treffend beschreibt ihr eigener Schwanengesang. Die brüllend intelligente Komik, das Spielen und Suhlen im Sprachbrei weicht der Übernahme des eigenen Selbstverständnisses als Stimme, die bleiben muss.
politik ist, nicht in tränen aus-
zubrechen.
14 wenn wir denn nun aber dieses beschlie-
ßen, geht ja alles erst los. im moment sind wir
noch mit nebensachen beschäftigt: klassen,
hunger, krieg, nicht in tränen ausbrechen. und
solange das so ist, werde ich mich für politik
nicht interessieren.
15 nur machen werd ich sie.[...]
die eitelkeit sie müssen sich bei eitelkeiten
immer klar machen, daß ich zehn jahre lang
fast vollkommen erfolglos war, als ich das hier
schrieb. sie müssen bedenken, daß ich gezwun-
gen war, mein spätwerk schon in meinen dreißi-
gern zu liefern. wenn sie dieses buch lesen, bin
ich berühmt, kunststück, aber jetzt! wenn sie
dieses buch lesen, ich schon lange tot. hof-
fentlich! die vergangenen zeiten! der heitere ab-
schied! komisch ist, was über die mühe erhebt.
Dass Legende in Pracht und Monumentalität vorliegt, im pink-schwarzen Stoffhardcover, ein Wälzer der Sprachfreude, ist eine große verlegerische Tat. Das Kultbuch des herzpochenden Romantikers Schernikau, der, als Westberliner, unter allen Umständen am Literaturinstitut in Leipzig studieren wollte und das Leben in der DDR mit „Ich find’s hier prima!“ kommentierte, wird seine Parade haben. Zu klug, zu witzig, viel zu viel Kolorit und Künstlerikonie steckt darin. Es gehört in eine Reihe mit den Utopien von Weiss, Morgner, Kluge etc. und ist doch singulär wie eine Kindheit.
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