Lesart
Elisabeth Paulsen* 1879† 1951

Verlassene Frauen

Die armen geschminkten Brauen
verlassener Frauen
klagen und schauen
mit flehenden Augen.

Sie wagen die Wimpern
nie zu senken,
die ärmsten Armen,
denn sie verschenken
ihr blasses Lächeln.

Und ihre Zähne,
die spitzen Zähne,
zerbissen schöne
und junge Lippen.

Ihr voller Mund ist
schon am Verblühen.
Sie müssen sterben
an allzufrühen
nächtlichen Frösten;
und keiner, keiner
wird sie dann trösten.

Zerknittert hängen
die bunten Fahnen;
auf den entfärbten,
zerwühlten Haaren
liegt es wie Asche

Und Asche, Asche
liegt auf dem Boden –
des Todes Odem –
und nichts als Asche –

Elisabeth Paulsen, Jungfrauenbeichte, Mannheim 1908, J. Bensheimer, S. 122 ff.

Die Furie des Verschwindens und die Dichterin Elisabeth Paulsen.

Lyrikinspektion auf Hegelbasis.

Daß das Allgemeine zu einer Tat komme, muß es sich in das Eins der Individualität zusammennehmen, und ein einzelnes Selbstbewußtsein an die Spitze stellen; denn der allgemeine Willen ist nur in einem Selbst, das Eines ist, wirklicher Willen. Dadurch aber sind alle andern Einzelnen von dem Ganzen dieser Tat ausgeschlossen, und haben nur einen beschränkten Anteil an ihr, so daß die Tat nicht Tat des wirklichen allgemeinen Selbstbewußtseins sein würde. – Kein positives Werk noch Tat kann also die allgemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens.1

Hegel wird, als er dies schrieb, den Großen Terror des Wohlfahrtsausschusses im Sinn gehabt haben: die allgemeine Freiheit wird, weil praktisch umsetzbar nur in exklusiven Taten Einzelner, zur Furie des Verschwindens, deren Furor alles nichtig macht, was den Prinzipien der allgemeinen Freiheit nicht genügt, also alles Individuelle, Eigenwillige, am Ende sogar dasjenige Individuum und seine Tat, das doch im Namen der allgemeinen Freiheit zu handeln glaubt. Mit anderen Worten: die allgemeine Freiheit wird an sich selbst irre und vernichtet, was nicht mit ihr identisch ist. Da aber Identität nur über ihr Anderes zu haben ist, fliegt am Ende die allgemeine Freiheit sich selbst um die Ohren.

Was hat die Beschreibung des Großen Terrors mit der Dichtkunst zu tun?

Es ist nur ein Analogieschluss, doch immerhin: Die Furie des Verschwindens wütet auch in der Kunst. Die allgemeine Freiheit der Kunst (nach der allgemeinen Freiheit überhaupt das andere große Projekt der bürgerlichen Epoche) müsste sich in die Tat umsetzen als absolutes Kunstwerk, dazu benötigt sie die Künstler*innen, nicht aber deren Individualität und Eigensinn. Das absolute Kunstwerk ist ein romantischer Traum, den nur ein absolutes Genie realisieren könnte, ein Unmensch. In der Realität erweist sich die Draperie solcher Genialität als inhumanes Omnipotenzgekasper im Attitüdenstadl. Das Absolute erwiese sich so als das Lächerliche, das zugleich eliminatorisch ist. Die allgemeine Freiheit der Kunst kommt nicht zu sich und lässt deshalb die Kunstwerke verschwinden. Wer kennt noch Johann Fischarts fulminanten Roman Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung von 1575? Der Tag wird kommen, da auch Die Buddenbrooks im kollektiven Gedächtnis nur noch eine Buchstabenfolge sind, weil Romane nicht mehr das sind, was sie damals waren. Die Bibliotheken und die digitalen Werkarchive sind letzten Endes Massengräber.

Wie die politisch Handelnden verschwinden also auch die Kunstwerke, mit ihnen ihre Urheber*innen. Aber sie verschwinden nicht spurlos. In ihrem Furor versäumt es die Furie des Verschwindens, die Spuren zu tilgen oder auch nur verwischen, sie muss besinnungslos weiter wüten, weil sie das, was sie eigentlich können sollte, nicht kann: die allgemeine Freiheit in die Tat umzusetzen. Damit aber wütet sie auch gegen sich selbst, und so kann es immer wieder mal gelingen, Verschwundenes dem Vergessen zu entreißen. Das macht es nicht wieder lebendig, aber es taugt mindestens zu einem Memento Mori und günstigstenfalls zu der Erkenntnis, dass Unabgegegoltenes keine Ruhe gibt. Hegel glaubte, die Furie der Verschwindens tötet, banal und mechanisch, dies sei der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts.2Das stimmt nur zur Hälfte, das Verschwinden ist einerseits tödlich banal, das Verschwundene aber geistert andererseits als Zombie weiter. In den Massengräbern der Bücher und Dateien herrscht keine ewige Ruhe, die verschwundenen Untoten zeigen, sobald sie gelassen werden, den verschwindenden Lebenden, dass nicht eine undankbare und vergessliche Nachwelt sie verschwinden lässt, sondern dass sie aus ihrem Eigensinn heraus zum Verschwinden bestimmt sind. – Was bleibet aber stiften die Dichter mitnichten. Die konservativen Wertewächter*innen sitzen dem Phantasma ihrer eigenen Überheblichkeit auf, wann immer sie Bleibendes wähnen.

Bei meinem letzten Besuch in Hamburg zeigte mir mein Freund Winfried Siebert das Buch einer Verschwundenen, das er gerade gefunden hatte:

Im Netz ist eine einzige brauchbare Information über die Dichterin zu finden: Thomas Krämer, Vom Verschwinden einer Dichterin Versuch über Elisabeth Paulsen. Der Aufsatz und das Durchblättern des Buches machen neugierig, am Titelgedicht dieser Lesart Verlassene Frauen blieben Blick und Gedanken hängen.

Verlassene Frauen. Männer haben ja immer schon gerne Mütter, Mädchen, Geliebte in den Himmel gehoben. Wie sowas enden kann, ist weniger ihr Thema. Goethe ist da eine Ausnahme – Willkommen und Abschied, 1827:

[…]
Ich ging, du standst und sahst zur Erden,
Und sahst mir nach mit nassem Blick:
[…]

Ein Satz. Ratzfatz. Wenn Goethe mit feinem Dreifachsinn angesichts der armen, ihm nachsehenden Friederike Brion, die ja nun wirklich das Nachsehen hat, anklingen lässt, dass sie ES ihm nachsehe, hat das was Zynisches. Friederike Brion hatte dann ja wohl auch für den Rest ihres Lebens von verliebten Herren die Nase voll, zumal Goethe es nicht lassen konnte, mit diesem Abschied bis ins hohe Alter herumzuprahlen.

Verlassene Frauen sind in der bürgerlichen Epoche wohl einfach kein Männerthema. Allein deswegen Hochachtung für Elisabeth Paulsen, die schon in der Überschrift deutlich macht, dass Friederike Brion die erste nicht (Goethe) und nicht die letzte war.

Die Verse des Gedichts sind locker geknüpft, es gibt Reime, aber kein Reimschema, der Jambus ist mal zwei-, mal dreihebig, mal ist da eine Senkung zuviel, mal fehlt der unbetonte Auftakt des Verses, aber nur, wenn der Vers davor unbetont endet, so dass vor der ersten betonten Silbe doch noch eine unbetonte steht, damit die jambische Rhythmik nicht gestört wird. Diese Nonchalance findet sich auch in der Semantik: Da schauen Brauen mit flehenden Augen, ein aschegleiches Es liegt auf den entfärbten, zerwühlten Haaren, und das syntaktisch inkompatible des Todes Odem wird mit Hilfe zweier Gedankenstriche der sonst kohärenten Strophe aufgepfropft. Brauen und Augen bilden einen eigenständigen, handelnden Organismus. Das rätselhafte Es wirkt auf den ersten Blick wie ein grammatischer Platzhalter, der ohne eigenen Inhalt die Subjektfunktion ausübt. Aber es hat ja einen Inhalt, nämlich die Eigenschaft, wie Asche zu sein. Womöglich markiert dieses Es etwas Unnennbares, ein Tabu. Jede genauere Benennung (Schicksal, Unglück, Schuld, Fluch etc) wäre der reine Kitsch. Und das Inkompatible des Einschubs in der letzten Strophe wird noch einmal gesteigert durch den Gedankenstrich am Ende, der eben keinen Schluss markiert, sondern einen Übergang zu etwas, das im Gedicht nicht sagbar ist. Insgesamt spiegeln diese Eigentümlichkeiten den Druck der Fragmentierung oder Dissoziation wider. Fragmentiert erscheint in diesem Gedicht das zeitgenössische Frauenideal, gekennzeichnet durch Schönheit, Jugend und vor allem Passivität, wie es z.B. das Foto der amerikanischen Schauspielerin Maude Fealy von 1919 repräsentiert:

Geschminkte Brauen, Augen, die durch offenbar retuschierte Lichter überklar erscheinen, leer und erfüllt zugleich ins Unendliche gerichtet, (noch nicht gesenkte) Wimpern, blasses (Beinahe-) Lächeln, junge Lippen, voller Mund, zerwühlte, (aber nicht entfärbte) Haare sind hier sorgfältig inszeniert, ergänzt durch einen Blütenkranz, ein filigranes Collier und duftig drapierte, edle Stoffe. Eine Allegorie blühender Jugend und züchtiger Jungfräulichkeit. Frauenideal und Männerphantasie der bürgerlichen Epoche: genau das Bild dekonstruiert Elisabeth Paulsen.

Auch im Schönheitsideal – in Hegels Diktion: der allgemeinen Schönheit – wütet die Furie des Verschwindens: Daß das Allgemeine zur Geltung komme, muß es sich in das Eins der Individualität zusammennehmen, […] Dadurch aber sind alle andern Einzelnen von dieser Geltung ausgeschlossen, und haben nur einen beschränkten Anteil an ihr, […] die allgemeine Schönheit kann also keine individuelle Schönheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens, die sich bei Paulsen in die Metaphorik des Verblühens und Verglühens kleidet: Das Schönheitsideal erzeugt die allzufrühen nächtlichen Fröste, die das Verblühende endgültig zunichte machen, die Pracht der Fahnen ist dahin, die (im Kummer) zerwühlten Haare sind entfärbt, grau. Die Tristesse des Alterns und der Tod sind die Perspektive der verlassenen Frauen. Das heißt auch, dass die blühende Erscheinung erst in der Hingabe an den Mann ihre Erfüllung findet. Dieses Blühen weist zugleich darauf hin, dass diese Frauen ein pflanzenhaftes Dasein führen. Nicht zufällig geistern zahllose Veilchen, Rosen und Alraunen durch die Männerlyrik der bürgerlichen Epoche, kreisen die Phantasien ums Blumenpflücken. Dazu passt, dass zur Entstehungszeit von Paulsens Gedicht der Humpelrock die Damenmode beherrschte: Pflanzen müssen ja nicht gehen können. (Das lernen sie erst bei Hildegard Knef.) Die Frauen locken bewegungslos, sind ganz und gar passiv. Können sie den Verlockten nicht halten, schauen sie mit flehenden Augen und müssen ihr blasses Lächeln verschenken, um dann doch mit zerrauftem Haar einsam zu vergehen. Und keiner, keiner wird sie dann trösten. Was bleibet aber ist nichts als Asche, das materielle Derivat des Verschwundenseins.

Die Tragik der gesellschaftlich bedingten Ausweglosigkeit bringt Elisabeth Paulsen auf den Punkt, indem sie die Zähne, die spitzen Zähne erwähnt. Spitze (anders als scharfe) Zähne drücken die Wehrhaftigkeit kleiner Tiere aus, die damit auch größeren blutige Wunden reißen können. Doch die spitzen Zähne der verlassenen Frauen sind nicht wehrhaft, sondern autoaggressiv, sie zerbissen schöne und junge Lippen.

Elisabeth Paulsens verlassenen Frauen sind ein Nichts ohne Mann, sie verschwinden mit ihrer Schönheit. Die Männer dagegen gehen einfach nur woanders hin. Z.B. von Sessenheim nach Wetzlar.

Mit dem Ende der bürgerlichen Epoche wird das Thema der verlassenen Frauen auch für Männer virulent. Nicht unbedingt für Jurastudenten aus gutem Hause, die machen einfach weiter. Wohl aber für afroamerikanische Musiker aus Kansas City:

Roll 'Em Pete

Well, I got a gal, she lives up on the hill
Well, I got a gal, she lives up on the hill
Well, this woman's tryin' to quit me, Lord, but I love her still

She's got eyes like diamonds, they shine like Klondike gold
She's got eyes like diamonds, they shine like Klondike gold
Every time she loves me, she sends my mellow soul

Well, you're so beautiful, you've got to die someday
Well, you're so beautiful, you've got to die someday
All I want's a little loving, just before you pass away

Pretty baby, I'm goin' away and leave you by yourself
Pretty baby, I'm goin' away and leave you by yourself
You've mistreated me, now you can mistreat somebody else

(Big Joe Turner)

Im Jahr 1938 sind die Karten neu gemischt: Der Mann muss sich auf einmal Sorgen machen. This woman's tryin' to quit me, Lord, but I love her still. This woman ist offensichtlich ein material girl, denn She's got eyes like diamonds, they shine like Klondike gold. Sie weiß, was sie wert ist und will ihn verlassen. Er droht ihr mit mit dem Schicksal der verlassenen Frauen, der Furie des Verschwindes: Well, you're so beautiful, you've got to die someday. Doch seine Drohung ist ohnmächtig, er gesteht damit seine Niederlage ein und geht lieber an einen anderen Ort, und sie hat ihren Willen. I'm goin' away and leave you by yourself / You've mistreated me, now you can mistreat somebody else.

So hintergründig Elisabeth Paulsen dem Geschlechterverhältnis sprachliche Gestalt gibt, die nur 30 Jahre jüngere, auch ohne Big Joe Turners Stimme und das treibende Piano Pete Johnsons beeindruckende Uptempo-Lyrik von Roll ’em Pete rückt Verlassene Frauen weit in die Vergangenheit. Und seither sind abermals 80 Jahre vergangen. Doch das besinnungslose Wüten der Furie des Verschwindens lässt dem Verschwundenen keine Ruhe, es rumort weiter und wartet, bis es wieder einmal ausgegraben und bestaunt wird.

  • 1. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Die absolute Freiheit und der Schrecken, Werke. Band 3, Ffm 1979, S. 435f – Anmerkung: Im letzten Satz des Zitats ist Kein positives Werk Objekt und die allgemeine Freiheit Subjekt!
  • 2. ebd. S. 436

Letzte Feuilleton-Beiträge