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Kritik

Heilmittel

Hamburg

Ein schmaler Band, erschienen in der äußerst instruktiven von Urs Engeler begründeten Reihe Roughbooks. Wir haben sie im Abo und freuen uns Monat für Monat.

"doktor zeit" also heißt das im März erschienene Heftchen und enthält Gedichte des im vergangenen Jahr verstorbenen Wolfgang Schlenker. Der Autor ist doch gerade erst geboren, denkt man, wenn man das Geburtsjahr liest, nämlich 1964. Aufgewachsen in Nürnberg lebte er nach dem fast obligaten Berlinaufenthalt zuletzt in der Schweiz.

Er war also kaum älter als ich. Und irgendwo liest oder hört man auch  von der Todesursache: Selbstmord.
Allerdings ist dieser Begriff nicht nur in Hinsicht auf Schlenker irreführend und rührt aus einer Zeit, in der eine solche Tat  verklärt wurde, etwa indem man darin einen Ausdruck des Genies des Opfers sah. Ich möchte lieber von Selbsttötung sprechen und mag mir nicht anmaßen, die Gründe zu verstehen, die zu einer solchen Tat führen. Vielleicht, denke ich, bemisst sich an der Fähigkeit oder Unfähigkeit in einem solchen Fall zu helfen, der Grad unserer Zivilisiertheit und der Stand unseres technischen Vermögens.

Zunächst einmal bleibt mir also nichts, als die Gedichte zu lesen, die ja eine gewisse Art Vermächtnis darstellen, ein Erbe, das Schlenker uns hinterlassen hat. Und der Titel „doktor zeit“ klingt mit dem angeführten Hintergrundwissen natürlich euphemistisch. Die Zeit heilt nämlich nicht alle Wunden, sondern die Zeit ist ein mieser Quacksalber, der alles einem Ende zuführt, ob geheilt oder ungeheilt.

Natürlich sucht und findet man bei der Lektüre des Bandes Spuren der Verzweiflung, Momente, die man als Ankündigungen des kommenden Todes versteht.

„nun da die worte weiß sind
wie guter rauch
und ihre nebengeräusche
vergessen haben

haben sie auch gelernt
dass kein gerede
die welt verändern kann“

Aber man ginge an der Substanz des Buches vorbei, würde man es bei dieser Suche belassen, denn Schlenkers Gedichte bieten mehr, viel mehr. Sie haben Humor. Und hat man sich erst einmal an der eigenen Trauer abgearbeitet, die man mehr oder weniger dem Wissen um die eigene Sterblichkeit verdankt, tritt der Humor auch hervor.

„einfach nur realität
zwinker zwinker“

heißt es dann auch im Gedicht „umwege“. Und ich war bei der Lektüre mit einem Mal wach, verwischte die Tränen. Denn das. was ich da vor mir hatte, waren ja Gedichte und keine Traueranzeige. Und ich las, als würde ich vom Schicksal des Autors nichts wissen und fand diese Texte mit einem Mal witzig und schön. Denn:

„die angst vor dem sturz
ist ein motor um höher zu steigen
aber wenn man das gefühl des stürzens
gut genug kennt
ist alles anders geworden

es braucht dann nur noch
einen anderen motor
um wieder fahrt aufzunehmen“

Wolfgang Schlenker · Urs Engeler (Hg.)
doktor zeit
roughbooks
2012 · 56 Seiten · 8,50 Euro

Fixpoetry 2012
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