Ein Lexikon der Liebe
In einem Interview in der Zeitschrift Ostragehege, das Ulrike Almut Sandig 2012 anlässlich des Gedichtbandes „in den hirschen“ mit Sünje Lewejohann führte, spricht Lewejohann davon, dass das Schreiben von Gedichten für sie einer Liebesbeziehung gleicht. Im selben Interview stellt sie klar, dass die Gedichte in „in den hirschen“ Liebesgedichte sind.
Wenn jetzt der neue Gedichtband von ihr mit dem schönen Titel „die idiotische wucht deiner wimpern“ ein Lexikon der Liebe beinhaltet, scheint das nur konsequent.
Dabei entfaltet sich das Phänomen Liebe bei Lewejohann von zarten erfüllten Momenten bis zu einer Wucht, bei der die gesamte Existenz auf dem Spiel steht. Der kulturelle Subtext, der in allen Gedichten mitschwingt, erstickt jegliche Pathosgefahr im Keim, ohne zarte Töne zu verhindern.
Lewejohann gelingt es, eine ganz eigene Sprache und einen ganz eigenen Zugang zu diesem ältesten und schon unendlich häufig bedichteten Phänomen zu entwickeln. Eine Sprache, die absolut privat ist, die sehr persönlich daherkommt und doch nicht nur sprachliche Schönheit, sondern weit über den Einzelnen hinaus reichende Relevanz hat.
Schon im eröffnenden Gedicht, das die Liebe einführt, herrscht eine eher desillusionierende Sprache vor, der zärtliche Beginn mündet schnell in einen schmerzlichen Ton.
„[…] und wenn ich dir folgte,
hast du ein lied mit den lippen geformt.
das wuchs aus den strandrosen
und blieb hängen in algen und gras, war
nichts als ein winziger
klirrender ton.“
Häufig oszillieren die Gedichte zwischen Genuss und Abschied, und einmal ist es die sanfte Wehrlosigkeit mit der das lyrische Ich dem unvermeidlichen Abschied begegnet, ein anderes Mal aber die furiose Wehrhaftigkeit, die für Spannung nicht nur innerhalb der einzelnen Gedichte sondern auch zwischen den Gedichten in ihrer Gesamtanordnung sorgt.
Es geht um eine Liebe, die weder Anfang hat, noch Ende,
„nur diese lang lange nacht“
Um die Spielarten der Liebe und darum, wer wie geliebt wird.
„die idiotische wucht deiner wimpern“ erzählt eine Liebesgeschichte und eine Geschichte der Liebe. Die Gedichte erzählen diese Geschichte an einem konkreten Beispiel, aber es ist ein Beispiel von gesellschaftlicher Relevanz. Weil es nicht nur von den Formen einer Beziehung erzählt, die sich im Laufe der Jahre verändern, sondern auch von den Arten, wie sich die Formen, Ausformungen und Vorstellungen von Liebe selbst im Laufe der Biografie verändern, wie sie dabei aber immer auch beeinflusst sind von gesellschaftlichen Vorstellungen und Vorbildern. Der Zyklus „königin der schnecken“ entfaltet die Ab- und Unterarten von Liebe, die heranwachsenden Menschen in noch nicht so selbst bewussten Stadien ihres Lebens widerfahren können. Es sind Gedichte, die jeweils mit der entsprechenden Altersangabe überschrieben sind. Die Art, wie Lewejohann die Zahlen anordnet hat etwas Magisches. Ich habe versucht ein Muster zu finden, zunächst gelingt das recht gut, aber schnell führt es nicht weiter. Und vielleicht ist genau das gewollt, weil Muster und Folgerichtigkeiten bei der Liebe nicht weiterführen. Weil es hier nicht um Verstehen gehen kann, sondern um Begreifen, das keinerlei Mustern folgt.
Liebe ist nie etwas eindimensionales bei Lewejohann, vielmehr immer wieder etwas, das sich einem Zugriff entzieht, sich beständig verwandelt.
Da ist von übergriffigen und unbewussten „Liebesakten“ die Rede, in DREIZEHN findet Lewejohann einen Satz, der als Schlüsselsatz für das erst mit der #me too Debatte langsam aufbrechende Schweigen so vieler Frauen gelesen werden kann:
„[…] ich schrie ihn nicht an.
Ich warf meinen mund weg.“
Aber auch von den Metamorphosen der Liebe ist die Rede, die sich ebenso natürlich wie willkürlich mit dem Alter ergeben. Hier erfolgt eine ebenso handfeste wie poetische Auseinandersetzung mit dem Körper und den Entwicklungen, die mit der körperlichen Veränderung einhergehen.
„ich dachte, Liebe sei echt
& der Körper erfunden“
schreibt Ocean Vuong in seinem gerade erschienenen Band „Nachthimmel mit Austrittswunden“. Zehn, zwanzig Jahre älter wert sich der Frauenkörper gegen solche Vorstellungen und behauptet sich schmerzhaft in seiner sehr realen vergänglichen Existenz.
Sehr gekonnt läuft im letzten Gedicht dann alles, all die Erfahrungen der unterschiedlichen Altersstufen, zusammen.
Und dieser Vorgabe folgen auch die Gedichte. Manche sind zart und probieren die unterschiedlichen Formen von Liebe an und aus, andere sind sehr selbstbewusst und schöpfen Kraft aus einer Art Liebe, die die Welt reicher und größer macht, und die Liebenden wehrhafter.
Dabei überschreiten die Gedichte immer wieder die Grenzen der Körperlichkeit, um schließlich von ihr eingeholt zu werden, zwischen Hingabe und Gewalt bewegt sich der poetische Kosmos von „die idiotische wucht deiner wimpern“ selbstbewusst verletzlich von der Natur zum Körper bis zur gesellschaftlichen Sprengkraft von Gefühlen.
Mit „die idiotische wucht deiner wimpern“ eröffnet Sünje Lewejohann ihren Leserinnen ein Universum der Liebe, das Abgründe ebenso beinhaltet wie Gipfel.
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