„Werde, der du bist“
„Der kennt mich doch gar nicht, wieso kann der über mich schreiben“, sagte Udo Lindenberg kürzlich in einer ARD-Sendung, in der von Franz Beckenbauer bis zu Peter Härtling noch weitere bekennende Hesse-Verehrer zu Wort kamen. Wer aber war Hermann Hesse, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum fünfzigsten Mal jährt und der in seinem Leben wahrhaftig nicht nur Bewunderer hatte, sondern sich auch immer heftiger Kritik ausgesetzt sah. In einer siebenhundertseitigen bei Hanser erschienenen Biographie geht der Philosoph und Buchautor Gunnar Decker dieser Frage nach, leuchtet alle Phasen eines komplizierten Künstlerlebens aus und gibt mit dem Untertitel des Buches „Der Wanderer und sein Schatten“ eine erste Antwort.
Denn Hesse war immer von seinem selbst zerstörerischen Doppelgänger als Schatten umgeben, wobei sich Decker auf Nietzsche bezieht, dessen Ausführungen Hesse stark beeinflusst hatten. Er war eben nicht der gemütliche Strohhutträger, als der er uns auf dem Buchumschlag begegnet, sondern ein ständig zwischen Schreibeuphorie und Depression schwankender Autor, jemand, der seine Kinder und seine drei Ehefrauen nur aus der Distanz ertrug, und äußerst egozentrisch sein konnte.
Doch Decker sieht sich als ein Biograph „ohne polizeilichen Ermittlungsauftrag“. Ihm geht es nicht um neue Enthüllungen, nicht um Bloßstellung oder pure Hommage, sondern er möchte sich dem Autor unaufgeregt anhand der Quellen nähern. Diese sind allerdings erdrückend viele. Denn nicht nur Hesse, sondern auch seine Familie, angefangen bei den Großeltern, war schriftstellerisch tätig und glaubte aufgrund der pietistischen Herkunft ständig Zeugnis über ihr gottgefälliges Verhalten ablegen zu müssen.
Auch Hermann Hesse selbst war von frühester Jugend an ein fleißiger Schreiber.
So liegt Deckers Biographie nicht nur Hesses zwanzigbändige Ausgabe der „Sämtlichen Werke“ zugrunde, sondern er konnte auch auf (wenige) Tagebücher und unzählige Briefe zurückgreifen. Hesse, der oft keine Menschen um sich herum ertrug und mit seiner dritten Frau Ninon Dolbin tagelang nur durch sogenannte Hausbriefe kommunizierte, hatte immer wieder den Drang, sich seiner Umwelt in insgesamt 44 000 Briefen mitzuteilen. Daher kann der Biograph seine eigenen ausführlichen Interpretationen der literarischen Werke stets durch Äußerungen des Autors ergänzen.
Ehe Decker sich über siebenhundert Seiten auf die Lebensreise und „Seelenbiographie“ Hermann Hesses begibt, fasst er in seiner Einleitung blitzlichtartig dessen Wirkungsgeschichte zusammen. Die ist, wie Hesse selbst, äußerst widersprüchlich. Während seine schon zu Lebzeiten in 34 Sprachen übersetzten Bücher durchweg viele Leser fanden, wurde er von Kollegen und im Feuilleton oft hart kritisiert. Erich Mühsam, Gottfried Benn, Robert Musil alle lehnten den „Modernisierungsverweigerer“ Hesse ab, Verdikte, die Decker indirekt kommentiert, wenn er beispielsweise über Benn schreibt, dieser fühle sich „zuständig für die Nachkriegperspektive“. Auch die „aus lauter Hesse-Verächtern“ bestehende „Gruppe 47“ lehnte ihn als zu neoromantisch, zu harmlos ab und Joachim Kaiser deutete Henry Millers Bewunderung für Hesse sogar als Beweis für Millers zunehmende Senilität.
Eher konnten sich DDR-Bürger mit seinen Außenseiterhelden identifizieren, seine Romane waren für sie nicht zu Unrecht „Immunisierungsangebote gegen bloße Ideologisierung“. Bekannt ist der Hesse-Kult der amerikanischen Hippies, die sein magisches Theater und seine Traumsequenzen mit LSD-Trips verwechselten und seinen „Demian“ oder „Steppenwolf“ wie die gleichnamige Band in „Born to be wild“ umdichteten.
In elf Kapiteln also zeigt uns Gunnar Decker in detaillierten Ausführungen die Entwicklung des unangepassten Jungen zu einem berühmten Autor. Dabei führt er aus, wie die schreckliche Kindheitsgeschichte, einschließlich eines Aufenthaltes in einem Irrenhaus, und die Ablehnung durch seine Mutter ihn sein Leben lang über zwei Psychoanalysen hinaus begleitet hat und sich vor allem in seinen frühen Werken niederschlug. Aber auch bei späteren Texten stellt er Zusammenhänge her und gibt am Ende mehrerer Kapitel Ausblicke auf zukünftige literarische und persönliche Entwicklungen. In einem Abschnitt über Nietzsches Einfluss auf Hesse heißt es dann: „Bald aber dämmert es ihm, dass Nietzsches Problem ein anderes ist: Folge nicht mir, folge Dir nach! Den Mut, sein eigenes Schicksal zu übernehmen, die gewollte Autonomie auch da zu leben, wo sie mit bitterem Irrtum und Scheitern einhergeht – darin wird Hesse fortan die oft verfehlte Aufgabe des Intellektuellen erkennen.“ Und in der Geheimschrift, die in „Demian“ vorkommt, sieht er den vorweggenommen Stil des „Steppenwolfs“. Die fast in allen Romanen und Erzählungen auftauchenden Symbole sind der „Wanderer“, der „Steppenwolf“ und der „Glasperlenspieler“, lauter Facetten seiner Doppelgängerfiguren, die in ihren Paarbeziehungen Nietzsches Gegensatz vom Dionysischen und Apollinischen verkörpern, ein für Hesse grundsätzlicher Widerstreit im Menschen, den man nur selbst ohne „Führerfigur“ lösen kann. Auf diese Grundkonstellationen geht Decker immer wieder ein, zeigt sie sowohl anhand seiner Werke als auch an Hesses Lebensgeschichte. Denn Hesse dachte nicht nur an seine persönliche Entwicklung, sondern ihn beunruhigte, wie Nationalismus und zwei Weltkriege die Wahrnehmungen der Intellektuellen veränderten, wie sie für kollektives Bewusstsein und Massenkultur die eigene Autonomie vernachlässigten. Hesse, der sich weder von den Nationalisten noch von deren Gegnern vereinnahmen ließ, der gegen Bewegungen und Institutionen aller Art allergisch war und während des Ersten Weltkrieges auch für feindliche Gefangenbibliotheken Bücher sammelte, saß auch damals zwischen allen Stühlen, wurde als bequem in der Schweiz sitzender Vaterlandverräter tituliert.
Da selbst ein so zurückgezogener Autor wie Hermann Hesse nicht im luftleeren Raum lebte und sich nicht allen Kontakten verschließen konnte, erhält der Leser zusätzlich Einblicke in das Leben seiner Freunde und Bekannten. Neben Thomas Mann und Peter Weiss, den er gefördert hat, seien vor allem Hesses engster Freund und sein erster Biograph Hugo Ball genannt. Mit ihm, der 1916 in Zürich im Club Voltaire das „Erste Dadaistische Manifest“ verlesen hatte, der aber später zum Katholizismus neigte, führte Hesse viele Gespräche über Glaubensfragen. Balls Tod traf ihn hart und heilte ihn von seiner eigenen Todessehnsucht.
Obwohl durch die Biographie regelmäßig Deckers Sympathie für seinen Protagonisten durchscheint, schreibt er entsprechend seinem Anspruch keine „pure Hommage“. Weder verschweigt er Hesses neurotische Seiten, seine Flucht vor Verantwortung und seine oft widersprüchlichen Verhaltensweisen noch beschönigt er Texte, die er schlecht findet. Hauptsächlich Hesses Lyrik beurteilt er im Gegensatz zu dem utopischen Stil seiner Prosa als zu eindimensional. Häufiger aber nimmt er ihn gegen seine Kritiker in Schutz, wenn er beispielsweise über Hesses „aufreizend konventionelle Sprache“ schreibt, bei der das „unechte Bild im Detail“ dennoch nichts von der „Echtheit der Gesamtwirkung“ nehme. Und noch häufiger spart er nicht mit Lob, nennt den weniger bekannten Text „Psychologia Balnearia oder Glossen eines Badener Kurgastes“ einen „Geniestreich“ und „Demian“ in seiner Subjektivität in der „Literatur des 20. Jahrhunderts ein noch nicht dagewesenes Dokument der Zeit“.
In seinem Buch eröffnet der Autor, beginnend mit dem „familiären Hinterland“ seiner Großeltern bis zu Hesses Tod 1962, ein zeitgeschichtliches Panorama über eineinhalb Jahrhunderte. Dabei erfährt der Leser viel über die rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen, über zwei Weltkriege, über Politik und Kultur und über den Autor Hermann Hesse, der innerhalb dieser Gesellschaft lebte und doch immer ein Außenseiter blieb.
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