Gesprachgewordene Existenz
Autobiografien gibt es wie Sand am Meer und nicht alle sind wirklich aufschlussreich. Dezent verschleierte Selbstbeweihräucherung oder trockenes Faktengedresche, rückblickende Erklärungsversuche oder in lineare Chronologie gepresste Lebensphilosophien – nicht jeder Mensch ist interessant, nicht jede Biografie weiß zu fesseln. Das trifft auch auf jene zu, die hinter großen literarischen Werken stehen. Mit Georges Perros reiht sich eine weitere Autobiografie in die reichhaltige Tradition ein, die bis in die Antike zurückzuverfolgen ist. Im kollektiven Gedächtnis bleiben gemeinhin die skandalträchtigen – etwa Günter Grass‘ „Beim Häuten der Zwiebel“ –, die stilbildenden – Augustinus‘ „Confessiones“ und Jean-Jacques Rosseaus „Confessions“ oder die literarisch-philosophisch orientierten Memoiren wie Jean-Paul Sartres „Die Wörter“. Mit „Luftschnappen war sein Beruf“ veröffentlicht Matthes und Seitz nun die Autobiografie eines Zeitgenossen des Letztgenannten. Da Georges Perros allerdings weder zu Lebzeiten noch über seinen Tod im Jahre 1978 hinaus wenig Ruhm für sich und sein größtenteils postum veröffentlichtes Werk verbuchen konnte, stellt sich automatisch die Frage: Lohnt es sich denn wirklich, über eine Randnummer der Literaturgeschichte in deren eigenen Worten zu erfahren? Der Originaltitel verspricht schließlich ebenfalls lediglich „Une vie ordinaire“, ein gewöhnliches Leben.
Interesse weckt „Luftschnappen war sein Beruf“ jedoch schon allein durch seine Form. Das ganze Buch ist in Versen verfasst, es handelt sich tatsächlich um den Gedichtroman, den der Untertitel verspricht. So gut wie interpunktionslos dichtet sich Perros durch seine bisherige Vita – gerade einmal 41 Jahre alt war er, als er 1964 diese seine Memoiren verfasste. Die nimmt ihren Auftakt sogleich mit einem Scherz, aus dem sich schnell eine Programmatik herauskristallisiert: „Man sagte mir ich sei geboren / aber in so einem komischen Ton / (…) / kurz ich erwarte Bestätigung / dieses verdächtigen Ereignisses“. Die eigene Existenz als Gerücht, das sich noch bestätigen muss also; die nur sprachlich verbrieft ist und über die sich Perros nur mit poetischen Mitteln Gewissheit zu verschaffen meinte. In diesen Memoiren erhält die Sprache eine existenzielle Dimension von immenser Eindringlichkeit: „Ich schreibe dies alles als würde ich / morgen sterben und als schlüge die / Stunde niemanden mehr zu sehen“, heißt es an anderer Stelle, ein paar Verse darunter: „Nichts wir sind nichts als Glücksfälle / um zu benennen was niemals einen / Namen hätte haben sollen“. Wie aber gestaltet sich nun Perros‘ Versuch, das eigene Leben in Worte zu fassen?
„Luftschnappen war sein Beruf“ liest sich in der Tat wie ein hektischer, in Verse gebrochener und schnappatmender Rückblick, der schnell aus dem Ruder läuft. Das noch eher streng chronologisch geordnete erste Kapitel zur eigenen Kindheit und Jugend verliert sich bereits in abwandernden Gedanken, abrupt, beinahe willkürlich wird ein Portrait Paul Valérys nachgeschoben. Das verliert sich, ähnlich wie die Reflexionen zur eigenen Vita, in Banalitäten: „Was mich angeht so hab ich den / Valéry mal im Pissoir gesehen / und direkt neben ihm gepinkelt / dem leisen Chanson lauschend / das aus seiner Blase drang“. Ist das noch witzig oder schon boshaft? Wohl eher: Beides zugleich. Aus Perros‘ Zeilen trieft nicht die bittere Enttäuschung eines geschmähten Underdogs, sondern eine bitterböse Ironie, die vor der eigenen Person beileibe keinen Halt macht. Die Schonungslosigkeit, mit der sich Perros zu seinen Kollegen auslässt, nimmt sich nichts mit derjenigen, mit der er sich selbst beleuchtet. „Hier ward Georges Soundso geboren / zu Lebzeiten brachte er es zu nichts / und danach auch nicht In seinen / vielversprechenden Momenten wusste er / uns an der Nase herumzuführen“ schreibt dieser in Vergessenheit geratene Dichter, dessen Nachname ursprünglich Poulet lautete. Wer dann noch locker daherparliert, wie er sich einmal einnässte, weil er nicht den Mut dazu aufbrachte, seinen Gesprächspartner für ein paar Minuten zu unterbrechen, beweist endgültig eine gehörige Portion Selbstironie.
Der lockere Ton mit seinen hysterisch-humoristischen Ausflügen entfaltet gerade dank seiner formalen Gestaltung seine Absurdität in vollen Zügen. Sowieso wird schnell klar, wieso Perros sich nicht mit Prosa begnügt hat: Kaum etwas passt besser zu seinen hektisch springenden Gedankengängen, die mal vollends banale und eigentlich uninteressante Details ans Tageslicht befördern und sofort wieder in breiten Reflexionen verstranden, die mal hirnverbrannt, mal tiefschürfend und interessant sind. „Ich kann Ihnen nicht alles sagen / Vermöchte es nicht liegt doch das / Geheimnis im Alles-sagen-Wollen / und am Ende Merken dass der / Zwischenraum der uns vom / Nächsten trennt noch der gleiche ist“. Das ist nicht als Entschuldigung zu verstehen. Daraus spricht die Überzeugung, dass es nicht ausreicht, Daten zu listen, Erinnerungen Revue passieren zu lassen und das Verhältnis zum Personal zu beleuchten. Es wird nicht einmal klar, von welcher Zeit Perros genau spricht, von welchen Orten, was ihn wirklich mit den Menschen verband, über die er schreibt. Trotzdem gelingt es ihm auf eine verquere Art und Weise, über das Psychogramm seines Selbst hinaus Eindrücke von dem zu vermitteln, was ihn zeitlebens umgab.
Nach „Luftschnappen war sein Beruf“ dürfte kaum eine Wissenslücke über Perros‘ Vita gestopft sein. Sonderlich sympathisch hat er sich vielleicht auch nicht gezeigt – was weniger der gespielten Arroganz denn eher seinem Faible für ausschweifendes Palaver geschuldet sein mag. Und schlussendlich steht immer noch die Frage im Raum, ob denn die Autobiografie einer so marginalen Figur der Literaturhistorie überhaupt von Belang sei. Bemerkenswert ist allerdings, dass es unmöglich scheint, diesen Gedichtroman aus den Händen zu legen und zu sagen, man hätte Perros nicht kennengelernt. Das ist das wirklich beeindruckende an „Luftschnappen war sein Beruf“: Der Franzose schafft tatsächlich, sein Versuch glückt ihm: „Luftschnappen war sein Beruf“ verdichtet sich zur sprachgewordenen Existenz. Aus dem Gerücht ist über gut 140 Seiten eine Gewissheit geworden.
Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben