Spurensuche in der Asservatenkammer der Sprache
Thomas Böhme hat im Keller seines Hauses eine ganz eigene Asservatenkammer. Dort liegen, säuberlich verstaut, Worte, die kurz vor ihrem endgültigen Vergessenwerden, das Glück hatten Böhme zu begegnen, der sie aufnahm, ihnen sein Ohr lieh und schließlich, als sich schon mehr als hundert von ihnen bei ihm eingefunden hatten, beschloss, ihre Geschichten zu erzählen. So jedenfalls, stelle ich mir die Entstehung dieses Buches vor.
Und nicht nur, weil die Worte, so lange nicht gehört und gesprochen, eifersüchtig waren und um Aufmerksamkeit buhlten, eines mehr als das andere, sondern vor allem weil Thomas Böhme nicht nur Lust an der Sprache, sondern auch an der Form hat, hat er seine Miniaturen durchnummeriert und lässt sie 90 mal bei Punkt neun enden. Elf Ausnahmen gibt es, die unnummeriert ihr Geheimnis, oder ihre Geschichte preisgeben.
Vielleicht ist es Zufall, dass er neun Punkte gewählt hat, möglicherweise aber auch gewollt, da in der neun „neu“ steckt, neun neue Gesichtspunkte, Betrachtungsweisen für 101 fast ausgestorbene Worte. Des Weiteren gilt die Zahl neun als Zahl der Vollkommenheit, da sie drei Mal die vielerorts als heilig angesehene Zahl drei enthält.
„Den Wörtern obliegt es, Sätze zu bilden, die der Verständigung zwischen Menschen derselben Sprache dienen. Manchmal scheitert die Verständigung am unterschiedlichen Wortgebrauch, und so liegt es uns ob, einige Wörter, die die Alltagssprache verworfen hat, die aber noch hie und da aufleuchten, in Obhut zu nehmen.“
So formuliert Thomas Böhme unter dem Stichwort „Obliegenheiten“ das Motto, das seinen 101 Asservaten zugrunde liegt. Von A wie Aberwitz bis Z wie Zipperlein, schöpft Böhme die Worte aus, indem er kleine, subtil humorvoll und durchwegs geistreichte, Geschichten erzählt, die dazu angetan sind, die alte Welt aus der die Worte stammen, wieder aufleben zu lassen.
„Heute sei der Bildungsbegriff einer Umbewertung unterworfen“, wird Böhme, der 1983 mit „Mit der Sanduhr am Gürtel“ sein Debüt vorlegte, von Kay Kloetzer im Blog der Zeitung Freitag zitiert. Böhme aber ziehe kurzfristig abrufbarem Quiz-Wissen ein komplexes Bildungsgefüge vor, das auf einem historischen Fundament steht. Jede Miniatur in seinem Buch bestätigt diese Aussage.
Böhmes Asservate bergen nicht nur beinahe aus dem Wortschatz getilgte Worte, sondern malen ein Zeitbild, das an Kritik nicht spart, ohne deshalb belehrend daher zu kommen.
„Selbst wenn die Texte sich aus Erinnerungen speisen“, schreibt Janina Fleischer im Literaturblog der Leipziger Volkszeitung, „können sie Kommentare zur Zeit sein. Über den Aberwitz schreibt Böhme, dass er Staub angesetzt hat, seitdem der Wahnsinn ihm in allen Medien Konkurrenz macht, ob als Mißfallensruf oder als Ausdruck der Begeisterung sei dahingestellt. Diesen Staub bläst der Autor fort.“
Vom Gassenhauer bleibt, nachdem der Staub von Böhme fort geblasen wurde folgendes: „Wer heute mehr als drei Silben auf eine Melodie beherrscht, will sich lieber vor Fernsehkameras zum Affen machen, statt frohgemut sein Liedchen auf den Gassen und öffentlichen Plätzen zu schmettern. Ausnahmesituationen in Bierzelten und Fußballstadien einmal beiseitegelassen.“ Noch prägnanter formuliert er seine Kritik unter dem Stichwort Depechen, das folgendermaßen beginnt: „Wo eine Nachricht innerhalb von einer Sekunde dreimal um die Erde gejagt wird, ohne etwas an ihre Bedeutungslosigkeit zu verlieren, bleibt die Depeche als Fußangel der Mitteilung auf der Strecke.“
Thomas Böhmes 101 Asservate sind nicht nur ein unterhaltsames Nachschlagewerk für fast verschwundene Worte, es ist auch ein ganz und gar aufgewecktes Buch, um ein weiteres im Verschwinden begriffenes Wort aufzugreifen. Ein Buch, von dem ich hoffe, es möge nicht auf der Strecke bleiben, sondern zahlreiche wache Geister finden, die es zu schätzen und genießen wissen.
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