Über Wolken
„Vielleicht ist die Wolkenkunde als Ganzes ein aus der Melancholie geborenes Vorhaben.“ Marcel Beyer
Ich weiß noch nicht, ob ich es zur Dokumenta schaffe, obwohl ich sie von ganzem Herzen sehen möchte. Vielleicht aber ist gerade das Geld knapp, vielleicht gibt es gesundheitliche Probleme. Ich hab die große Richterschau in Berlin nicht gesehen und war noch nie in einer Jasper Johns Ausstellung, obwohl ich seine Bilder, die ich von Repros her kenne, zutiefst bewundere. Ich könnte diese Liste endlos ausweiten und beginnen würde ich mit Goyas Ballonfahrt, die wohl im Prado hängt, vielleicht auch nicht. Ich kenne sie aus Büchern, und die lagen auf meinem Schreibtisch. Als Fazit bleibt bestehen: ich werde niemals alles sehen, was ich sehen will. Doch vieles kenne ich aus Reproduktionen. Es kann aber sein, dass die Wolken die gerade über Leipzig hinwegziehen, heute Morgen auch in Kassel zu sehen waren. Meine Phantasie ist, denke ich, intakt. Und außerdem gibt es zu den meisten wichtigen Ausstellungen Kataloge. Kataloge wie diesen hier, der auch ohne Ausstellung auskommt und fort existiert, wenn deren Pforten längst geschlossen sind.
Um das letzte Jahresende herum wurde in Winterthur im Museum für Fotografie eine Ausstellung gezeigt, die Kunde ablegt über die Wolkenfotografie Ende des neunzehnten bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. »Wolkenstudien – Der wissenschaftliche Blick in den Himmel« hieß sie.
Wie der Name schon sagt, ging es in dieser Ausstellung nicht um Schnappschüsse besonders telegener Himmelmöblierung, sondern um wissenschaftliche Kategorisierung und Einordnung dieser Form des Wasserdampfes, den wir Wolke nennen und in dem wir manches zu erkennen glauben, wenn er über uns schwebt. Das für mich Faszinierende ist allein schon die Vorstellung von einem solchen flüchtigen und durchscheinendem Material, denn selbst ein Vergleich mit Watte wäre unangemessen und der mit Schäfchen erst recht.
Und wie die Wolke selbst, stellte auch die Wolkenforschung ein Episode dar, „Sie reicht von ihrer Begründung – oder Erfindung - durch Luke Howard Anfang des 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein, um irgendwann in der Zeit der großen Umwälzungen – zwischen Erstem und Zweiten Weltkrieg - zerrieben zu werden.“ (Marcel Beyer).
Vor mir auf dem Tisch lastet also ein umfangreicher Band, herausgegeben und gestaltet von Helmut Völter: Wolkenstudien. Natürlich, wie es sich für einen Katalog gehört in drei Sprachen und mit vielen vielen Abbildungen, die mir den Gang ins Museum ersetzen müssen. Und sie tun es auf prachtvolle Weise auf 132 Tafeln mit Fotografien im Zweifarbdruck.
Bei der Betrachtung der Bilder falle ich in einen Zustand zwischen kindlichem Staunen und erwachsener Gelehrsamkeit. Was zunächst also einfach schön ist, kann also nun auch benannt und beschriftet werden, denn gleichzeitig mit der Beobachtung schöpft die Wissenschaft die Worte für das, was sie beobachtet.
Den Fotografien beigegeben ist ein Essay von Marcel Beyer, der immer zu Hochform aufläuft, wenn er über Wissenschaftliches schreibt, wenn er Wissenschaft nachkonstruieren kann wie die Akustik im Roman „Flughunde“, oder wie die Ornithologie in „Kaltenburg“. Und das macht eine gewisse Nähe zum Herrn Geheimrat Goethe aus. Auch seine wissenschaftlichen Schriften, sei es zur Farbenlehre, sei es zur Mineralogie zeugen vom ästhetischen Reiz, der in der systematischen Beobachtung von Naturereignissen liegt.
Dem Buch sind denn auch Texte von ihm und anderen Literaten, wie dem grandiosen Manley-Hopkins beigegeben, dessen Journal für mich zu den literarischen Wiederentdeckungen schlechthin gehört.
Fixpoetry 2012
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