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Kritik

Boomtown Berlin

Die Wiener in Berlin - eine Studie des Künstlermilieus der 20er Jahre
Hamburg

Die Wilden Zwanziger Jahre – ebenso Synonym wie eine oftmals strapazierte Formel für eine Periode des Aufbruchs und der Veränderung. Das Deutsche Kaiserreich und die österreichische Monarchie hatten den Weltkrieg verloren und waren untergegangen, schlagartig und radikal hatten sich die Bedingungen und Normen der Gesellschaft geändert, in Berlin schneller und gründlicher als in Wien. Berlin schien moderner zu sein, jedenfalls „schneller“, dreimal täglich erschienen die meisten Zeitungen, von denen es im Berlin der 20er Jahren an die hundert gab. Schnelligkeit und Tempo übten auf die Menschen eine Faszination aus, man ging zum Sechstagerennen, Hektik besaß noch keinen negativen Beigeschmack. Geschwindigkeit galt als Ausdruck von Fortschritt.

Zahlreiche Wiener Künstler, Schriftsteller und Journalisten beiderlei Geschlechts, sahen Berlin als Karriere-Sprungbrett, für Fritz Lang und – damals noch Billie Wilder, die sich für das neue Medium Film interessierten, war Berlin eine Stadt, wo technische Neuerungen ausprobiert wurden, zudem wurde auch die städtische Infrastruktur der Boomtown umfassend erneuert, man baute Bahnhöfe, erweiterte das Telefonnetz, die Straßenbeleuchtung wurde verbessert. Da die Tageszeitungen ihre eilige Leserschaft auf dem Laufenden zu halten trachteten, bot sich für Journalisten eine verlockende Chance, gutes und vor allem „schnelles“ Geld zu verdienen.

Genügend Gründe für Kunstschaffende von Wien nach Berlin zu übersiedeln, für Unterhaltungskünstler ebenso wie für Schauspielerinnen und Soubretten, die in der damals beliebten Form der Revue auftraten, erwies sich Berlin als Karriere-Schub, sodass bei so manchen, wie Elisabeth Bergner, die zum Liebling der Berliner avancierte, oder Billy Wilder, Fritz Lang, Max Reinhardt, Fritz Kortner, Hanns Eisler, Helene Weigel, Lotte Lenja und Vicki Baum, die Wiener beziehungsweise österreichische Herkunft nahezu in Vergessenheit geriet. Derart groß war die Zahl jener, die ihren Wohnsitz und Arbeitsplatz wechselten, dass der Feuilletonist Anton Kuh das Bonmot formulierte, er wolle „fortan in Berlin unter Wienern, statt in Wien unter Kremsern“ leben. Allerdings existierte in der deutschen Hauptstadt niemals eine Wiener Kolonie, vielmehr agierten die Wiener in der allgemeinen Berliner Künstlerszene.

„Es war stets ein zärtliches Verhältnis zwischen den beiden Hauptstädten. Das Rauhe, Nüchterne, Gründliche des Berliner Bären paarte sich gern mit dem Zarten, Romantischen, Leichtlebigen der Dame Wien“,stand 1925 im Berliner Tageblatt zu lesen. Hermann Schlösser bringt die Fakten auf den Punkt, indem er schreibt: „Berlin ist also auf wienerische Einflüsse angewiesen, weil es ja eine eigene Kultur überhaupt erst finden muss, während das vergangenheitsträchtige Wien darauf bedacht sein muss, seinen eigenen Geist vor Überfremdungen zu bewahren. In Gedanken wie diesem blieb auch in der Zwischenkriegszeit der alte Gegensatz zwischen den beiden Städten erhalten. Das mag auch ein Grund dafür sein, dass so viele Wiener nach Berlin gehen konnten, während eine vergleichbare Bewegung in die Gegenrichtung nicht stattgefunden hat.“

Auf manche der „Übersiedler“ wie Joseph Roth, Egon Erwin Kisch, Fritz Kortner geht Hermann Schlösser ausführlich ein, andere streift er eher nur. Besonders verdienstvoll ist, dass er auf Vergessene hinweist, auf den Schriftsteller Stefan Großmann sowie die Schriftstellerinnen Lili Grün und Gina Kaus, die literarisch raffinierter und anspruchsvoller war als ihre Freundin, die eher kommerzorientierte Vicki Baum. Es ist ein Buch, das eine vergangene Epoche zu neuem Leben erweckt. Mit Hitlers Machtübernahme endeten die Wilden Zwanziger, manche der Kunstschaffenden kehrten – zumindest kurzfristig – nach Wien zurück, um schließlich in die Emigration zu gehen. Einige blieben für immer in den Vereinigten Staaten.

 

Hermann Schlösser
Die Wiener in Berlin
Ein Künstlermilieu der 20er Jahre
Edition Steinbauer
2011 · 136 Seiten · 22,50 Euro
ISBN:
978-3-902494511

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