Noch nicht ganz vergessen
Natürlich wird es das immer geben, dass einige Dichter mit der Zeit in Vergessenheit geraten. Und immer wird es diejenigen geben, die diesen Zustand beklagen und ihr „völlig zu Unrecht!“ in die Welt rufen. Und meistens werden sie damit auch Recht haben. Im Falle Georg Heyms ist es jedoch längst noch nicht soweit. Dafür sorgt unter anderem der erste von Florian Voß herausgegebene Band der Lyrikedition 2000 mit dem Titel „Ich bin von dem grauen Elend zerfressen“. Auf knapp 70 Seiten widmen sich 27 Lyriker der Gegenwart dem Werk Heyms. Die dabei entstandenen „Gedichte und Erwiderungen“ fallen naturgemäß höchst unterschiedlich aus.
Da gibt es zum Beispiel Max Czolleks (siehe infoblock) Zweiteiler „Herzberge“, der in sehr freier Form auf „Die Irren (I)“ reagiert. Ein Gedicht, in dem Heym die innere Harmonie der von der realen Außenwelt Abgeschnitten sowohl gefühlvoll, zwielichtig als auch augenzwinkernd wiedergibt. Czollek spiegelt diese Stimmung in seinem Text hervorragend wider, und das, obwohl er ganz und gar auf Heyms Sprachmaterial verzichtet. In diesem Band ist das eher eine Seltenheit.
Ähnlich, aber letztlich doch ganz anders: Hendrik Jackson. Sein „Vita – Umbrae“ ist mein persönlicher Favorit dieser kleinen Sammlung. Die Erwiderung auf eines der bekanntesten Heym-Gedichte liest sich zunächst wie ein Original von 1912. Simultane Parataxen geben einen schnellen Rhythmus vor. Die radikale Außensicht wird elliptisch verdichtet. Das Gedicht ist jedoch aktueller denn je, scheint sich doch seit hundert Jahren nicht allzu viel verändert zu haben. „Vor den Banken geht ein Pan mit Terrorbärten flöten / Trottellummen gehen gestärkt aus Weltenden vor! / Klingeltöne ringen sich in Liebespaare ein – und töten. / Schwarz erbrüllt der Chor, milliardenfaches: Tor!“ Das apokalyptische Potential seines Textes unterstreicht Jackson folgerichtig mit einer Parole, vom der man glauben kann, sie entstamme den expressionistischen Zeitschriften „Die Aktion“ oder „Der Sturm“: „Dichtersein muss Dämmerung mit jedem Satz beweisen!“
Ganz anders hingegen Christoph Wenzels (siehe infoblock) Rekombination des Entwurfs „Der Herbstkirchhof“. Das Heym’sche Wortmaterial wird hier gekonnt umgestellt und um wenige Worte ergänzt, sodass das Ganze wie eine Fortschreibung, eine Vollendung wirkt. Damit changiert Wenzels Text haarscharf auf der Grenze zwischen Fragmentarischem und Geschlossenheit, Flüchtigkeit und kunstvoller Verdichtung. Ein klares Formbekenntnis gibt es hingegen von Jan Wagner, der dem Expressionismus gemäß auf das Sonett zurückgreift. Sein Gedicht „Der Schläfer im Wald“ lädt zu einer Lesart Heyms ein, die so gar nicht nahe liegt. „er ist den tiefen schlaf noch nicht gewöhnt – / lang hingestreckt auf einer lichtung liegt er, / verlegen lächelnd wie ein frisch verliebter –, / den schlaf, das dunkel, das ihm innewohnt.“ Mit diesen Versen im Hinterkopf bekommt der Vorbildtext von Heym fast neuromantische Züge. „Seit Morgen ruht er. Da die Sonne rot / Durch Regenwolken seine Wunde traf. / Das Laub tropft langsam noch. Der Wald liegt tot. / Im Baume ruft ein Vögelchen im Schlaf.“
Die Anthologie „Ich bin von dem grauen Elend zerfressen“ zeigt sich insgesamt wesentlich bunter als der Titel vermuten lässt. Es ist geradezu beruhigend zu sehen, dass die unterschiedlichen Interpretationen und Erwiderungen es schaffen dem facettenreichen Heym gerecht zu werden, der mehr zu bieten hatte als Melancholie, Herbst und Tod. Somit bilden die Gedichte ein erfreuliches Gegengewicht zu dem allzu pessimistisch geratenen Vorwort des Herausgebers. Florian Voß mag Recht haben, wenn er die fehlende große Werkausgabe vermisst. Gunter Martens hat indes vor Jahren schon eine sehr gute und kompakte Ausgabe der Werke im Reclam Verlag herausgegeben, die in jede Jackentasche passt. Der fast komplette Heym zum Mitnehmen und unterwegs lesen also. Zudem erschien 2009, ebenfalls bei Reclam, der bibliophile Nachdruck von „Umbra Vitae“ mit den 47 Originalholzschnitten von Ernst Ludwig Kirchner. Eine sehr schöne Ausgabe, die erstmals 1924 im Kurt Wolff Verlag erschien. Hinsichtlich eines angeblichen Desinteresses seitens der Literaturwissenschaft an Heym sei zu guter Letzt noch erwähnt, dass in den vergangenen 10 Jahren immerhin fünf Monografien erschienen, die sich dem Werk des Dichters widmen. Darunter eine englischsprachige. Das ist zwar die große Menge, aber dennoch eine Aufmerksamkeit, von der andere wichtige Expressionisten wie Alfred Wolfenstein, Albert Ehrenstein oder Iwan Goll nur träumen können. Ganz zu schweigen von Georg Trakl, auf dessen erste vollständige Biografie wir immer noch warten. Auch das hat Heym seinen Kollegen voraus.
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