Dem Leben entfremdet
Am Ende von Edouard Levés Roman, der eigentlich ein Essay ist, stehen Gedichte, die genauer gesagt Terzette sind. Wenn Sie jetzt immer noch Lust haben diese Rezension zu Ende zu lesen, gehören Sie eventuell zur Zielgruppe des Buches; falls es die überhaupt gibt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit aber sind Sie dann ein Leser, der das Einfache unter einer zunächst kompliziert wirkenden Oberfläche zu schätzen weiß, weil es sich dabei nicht selten um etwas Essentielles handelt. Der jüngst im Berliner Verlag Matthes & Seitz erschienene Roman „Selbstmord“, der eigentlich ein Essay ist, aber auch ohne Gattungsbezeichnung hervorragend auskommt, ist so ein Buch.
„Das Glück überholt mich / Die Traurigkeit verfolgt mich / Der Tod erwartet mich“. Das letzte Terzett in Levés Text fasst die Situation des namenlosen Protagonisten zusammen. Es handelt sich dabei um einen 25jährigen Mann, der eines Tages auf dem Weg zu einem Tennisspiel noch einmal umkehrt und sich im Keller seines Hauses erschießt. Zurück bleiben seine Frau, Angehörige und Freunde – und natürlich die Frage nach dem „Warum?“. Ein Freund aus früheren Jahren wendet sich in beharrlichem „Du“ an den Verstorbenen, zeichnet dessen Lebensweg nach, umkreist diese Frage und schafft dennoch nicht mehr als eine Annährung. Diese Annährung gibt jedoch nur eine vage Vorstellung davon, was den Selbstmörder im Innersten bewegt hat.
Der Protagonist in Levés Buch ist ein durchaus sympathischer Kerl. Er wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen auf, hat die Aufnahmeprüfung einer Elite-Hochschule bestanden, den Studienplatz dann aber abgelehnt, war ein talentierter Schlagzeuger, hat geheiratet, wurde depressiv. Diese Krankheit dient vielleicht noch am ehesten dem Verstehen, lässt den Selbstmord unter gewissen Umständen als eine Art Erlösung erscheinen. Aber nur, wenn man von ihr wusste und nur, wenn man mit dem Verstorbenen nicht allzu eng befreundet war. So wie Levés Erzähler, der dem Suizid in seiner gnadenlosen Nüchternheit sogar etwas Poetisches abgewinnen kann.
„Dein Selbstmord war von skandalöser Schönheit. Einmal bist du im Winter allein zu Pferd aufgebrochen, um querfeldein zu reiten. Es war vier Uhr nachmittags. Die Nacht fiel herein, und du warst kilometerweit vom Gestüt entfernt. Ein Gewitter war im Anzug. Es bracht los, während dein Pferd über trostlose Felder galoppierte. In der Ferne zeichnete sich schwarzblau die Silhouette der Stadt ab. Blitze und Donner schreckten das Tier nicht. Dich dagegen setzte die Gewalt des Unwetters in Hochspannung. Du warst eins mit dem Tier, dessen Geruch vom Regen verstärkt wurde. Du brachtest das letzte Stück in einer wasserdurchtränkten Finsternis hinter dich, die Hufe des Pferdes peitschten mit jedem Schritt die schwere, feuchte Erde.“
Zugegeben, die Passagen solcher dunkelromantischen Morbidität sind rar, die Stimmung, die sie vermitteln, zieht sich jedoch durch den gesamten Text. Dieser lebt vor allem dadurch, dass er trotz oder wegen zahlreicher Schnitte einen regelrechten Strudel aus mal behutsam tastenden, mal vorbeirasenden Episoden, Reflexionen und Assoziationen erzeugt. Dabei lässt sich der Erzähler nicht zu thesenhaften oder altklugen Lebensweisheiten hinreißen. Stets ist er nur darauf bedacht aus der Erinnerung heraus zu verstehen. „Deine Art aus dem Leben zu scheiden, hat deine Lebensgeschichte mit einem negativen Vorzeichen versehen. Jeder, der dich kannte, deutet jetzt all deine Handlungen im Licht der Letzten.“ Levés Text ist jedoch kein Kammerspiel und erst recht kein Epos eines Lebens. An keiner Stelle lassen sich künstliche Sentimentalität oder ausufernde Epik erkennen. Ganz im Gegenteil ist Selbstmord der analytische Versuch mit diesem großen Tabuthema fertig zu werden. Manchmal gelingt das nur mit kühler Distanzierung, genauso wie Levés Erzähler.
„Ich leide nicht, wenn ich an dich zurückdenke. Du fehlst mir nicht. Du bist in meiner Erinnerung stärker anwesend als während unseres gemeinsamen Lebens. Wenn du noch leben würdest, wärst du mir vielleicht fremd geworden. Tot bist du genauso lebendig wie lebend.“
Am Anfang von Edouard Levés Roman, der eine Art Abschiedsbrief ist, steht ein Selbstmord. In diesem, wie in jedem anderen Fall, bleibt für die Hinterbliebenen eine klaffende Wunde zurück. Eine Wunde, die nie völlig verheilen, weil nie vollends begriffen werden kann. Edouard Levé hat seinen Hinterbliebenen eine solche Wunde zugefügt. Er vollendete sein Manuskript mit dem Titel Suicide im Oktober 2007. Er schickte es seinem Verleger, der sich begeistert zeigte und ein Treffen mit dem Autor vereinbarte. Zu diesem Treffen ist es jedoch nicht mehr gekommen. Levé erhängte sich kurz zuvor in seiner Pariser Wohnung. Zurück blieb ein eindrucksvoller Text, der nicht tröstet, die Tat nicht verständlich macht. Ein Text, der nichts weiter ist als großartige Literatur.
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