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Kritik

Von Anfängen und letzten Gängen

Hamburg

Je weniger er erzählt, umso größer wird im Kopf des Lesers der Stoff. LOS ist eine Implosion ins Wesentliche“, schrieb Helmut Schönauer anlässlich des Erscheinens von Klaus Merz Novelle 2005, die nun als Taschenbuch vorliegt.

LOS ist die Geschichte eines Verschollenen, der nie wieder aufgetaucht ist. Dass seine Geschichte trotzdem erzählt wird, verdankt er einem Erzähler, der die dem Buch vorangestellten Sätze von Walter Benjamin ernst nimmt.

„Die Erzählung legt es nicht darauf an, das pure „an sich“ der Sache zu überliefern wie eine Information oder ein Rapport. Sie senkt die Sache in das Leben des Berichtenden ein, um sie wieder aus ihm hervorzuholen. So haftet an der Erzählung die Spur des Erzählenden wie die Spur der Töpferhand an der Tonschale.“

Dieses Prinzip wird im Buch dreifach eingelöst: „Die Aufzeichnungen über den Tod der Mutter tragen die Handschrift Thalers, die Geschichte von Thalers Verwanderung und dessen Ende die Handschrift des hinterbliebenen Freundes, die ganze Erzählung die Handschrift des Autors“, schreibt Markus Bundi im Nachwort der Taschenbuchausgabe.

„Mein Thaler hat sich verwandert“, sagt Thalers zurückgelassene Frau. Auch die Erzählung geht mehrere Wege. Einer dieser Wege, ist der Versuch Thalers Verschwinden nachzuzeichnen, den Weg den Thaler selbst gegangen ist, um mit Anstand Abschied von der Mutter zu nehmen, und sich nicht mit der Überlieferung des puren „an sich“ der Sache zufrieden gibt.

Vielleicht ist es von Anfang an eine Reise ins Jenseits, auf die Thaler sich macht, sehr zielstrebig und gar nicht „verwandert“ (wie der Jäger Gracchus aus Franz Kafkas Erzählung, der verurteilt ist, als Toter unter den Lebenden zu weilen. Thaler aber will es richtig machen, „anständig“ Abschied nehmen. Darum hat er wieder und wieder versucht, die Geschichte vom Sterben der Mutter niederzuschreiben, darum macht er sich jetzt auf seinen einsamen Weg.

Erinnerungsfetzen jagen einander, folgen willkürlich, ohne erkennbare Ordnung aufeinander. Das Fest, auf dem die Stirn der Mutter vor Glück leuchtete, der Hirntumor des Bruders, Beobachtungen, die zur Kulturkritik werden: „Mit diesen Kindern war kein Staat zu machen, muss Thaler unwillkürlich denken. Jedenfalls nicht in der Form, wie es sich ihre obersten Schirmherren zuweilen vorstellen, wenn sie schon in die kleinsten Köpfe hinein marktgerechtes Denken einpflanzen möchten und dabei immer wieder vergessen, dass es auch große, schiefe, eckige Köpfe braucht, wenn das Große, Schräge und das Sperrige auch weiterhin einen Ort haben sollen, um gedacht und ausgebrütet zu werden.“


Klaus Merz

Der zweite Weg, den die Erzählung geht, ist das Jäger Graccus Motiv. Obwohl Gracchus tot ist, ist er niemals im Totenreich angekommen, weil der Fährmann einen Fehler beging. Und auch Thaler lebt in dieser Welt ohne an ihr Teil zu haben. „Wie hinter Glas“ erscheint er seinen Schülern und er selbst gesteht sich ein: „Wie dieser Fisch im Berliner Zoo, den er nicht vergessen hat, ein Kinderkopf mit Flossen und todtraurigen Augen, seine Lippen gehen auf und zu, aber niemand hört ihn.“ Hinter Glas, oder wie Rilkes Tiger hinter Stäben. „Ihm ist als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Solche Zeilen treffen Thaler wie freundliche Messer.“

Ebenso wie Gracchus, und wie Thalers Mutter während ihres Krankenhausaufenthaltes, befindet sich Thaler „zwischen den Linien“.

Von einem Totenhaus habe er gehört, fällt Thaler auf seiner Wanderung ein, eigens von einem Architekten angefertigt, um die alten Riten des Abschiednehmens vor dem Aussterben zu bewahren. „Thaler hat von seinen eigenen Toten nie richtig und mit Anstand Abschied nehmen können. Immer waren sie schon eingesargt und in einen Kühlraum geschoben. Dieses Totenhaus will er sehen, wenn er übern Berg ist.“

Ins Gästebuch der Berghütte, in der er übernachtet hat, schreibt Thaler: „Ich bin hier, mehr weiß ich nicht, kann ich nicht tun. (Kafka, der Jäger Gracchus). Danke für das Gastrecht. Gruß Peter Thaler.“ Bevor er mitten in der Nacht zum Paß aufbricht. Es stürmt, die Schildmütze wird Thaler vom Kopf gerissen, beim Versuch sie wieder einzufangen, stürzt er und bricht sich den Fuß. Während er die Knochen brechen hört, denkt er: „so etwas war doch schon immer vorgesehen gewesen für ihn (¡K) Sein bisheriges Leben nichts als Stundung, Aufschub, Geplänkel. Nun gilt es ernst. Endlich.“ Dort in seiner Notlage begreift Thaler, „dass 'loslassen' ja auch loslegen meint. Anfang. Neubeginn. Durch seine Finger an der rechten Hand zucken Morsezeichen: S-O-S. Drei Punkte., drei Striche, drei Punkte.“

„Peter Thaler schliesst seine Augen und betrachtet sich selbst als ein Bild in diesem November.“

Zwei Lebensenden werden in LOS verschränkt, der erinnerte Tod der Mutter im Spital, freiwillig und scheinbar ohne jeden Grund, außer dem fehlenden Lebenswillen, nach einer harmlosen Operation. Aufzeichnungen, die Peter Thaler kurz vor seinem Tod gemacht hat, Blätter nach denen er in seinen letzten Momenten mit der noch verbleibenden Kraft langt. „Hoffentlich hat er Mutters Sterben wenigstens anständig zu Papier gebracht. Die Geschichte hätte ein Neuanfang sein können.“

Auch stilistisch unterscheiden sich Thalers Aufzeichnungen zum Tod seiner Mutter und die Aufzeichnungen über Thalers Geschichte, erzählt von einem Hinterbliebenen, der seine Spuren in der Erzählung hinterlässt, so wie Thaler einen Ausweg sucht, bei der Niederschrift vom Sterben der Mutter.

In Klaus Merz Erzählung geht es um das Verschwinden, ohne zu sterben und um das Sterben, ohne zu Verschwinden. Und um die Rolle, die das Erzählen dabei spielt. Jeder Satz, so funken schlagend und treffend er ist, ist im Grunde eine Aussparung, so dass sich mit der Novelle ein Zwischenraum öffnet, in dem die Geschichten liegen, die die aufgeschriebenen Sätze nur anstoßen. Klaus Merz wahre Kunst ist, dass er Geschichten wie Gedichte schreibt, in dem er Leerstellen schafft, die der Leser (unwillkürlich) mit Geschichten füllt. Ein Meister des Sich Zurücknehmens.

Klaus Merz
LOS
Nachwort: Heinz Egger, Vignetten: Markus Bundi
Haymon
2012 · 88 Seiten · 9,95 Euro
ISBN:
978-3-852189222

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