Räume hinter der Grenze
Möglicherweise hat Epikur Recht, und wir haben nichts mit dem Tod zu schaffen, weil er nicht ist, solange wir leben und wir nicht mehr leben, sobald er eingetreten ist. Allerdings betrifft diese Weisheit nur den eigenen Tod. Was aber ist mit dem Tod der anderen? Des geliebten Menschen? Ist dieser Tod die quälende Abwesenheit, oder eine neue unheimliche Anwesenheit der Vergangenheit, die nicht vergeht, weil sie eingeschrieben ist in das Leben desjenigen, der weiterlebt?
Michelangelo schreibt: „Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume. Ich lebe in euch und geh durch eure Träume.“
Ein Satz, der längst nicht mehr natürlich ist. Ein Trost, für Hinterbliebene, das ja, aber nichts Selbstverständliches. Weil die Grenze zwischen Leben und Tod längst scharf gezogen zu sein scheint, während sie lange Zeit fliessend gewesen ist. Zu diesem fliessenden Zustand, der Grenzen zwar akzeptiert, aber nicht als endgültig trennend ansieht, kehrt Eva Christina Zeller mit den 99 Gedichten des Zyklus „Die Erfindung deiner Anwesenheit“ zurück.
Es ist nicht ganz eindeutig, wie der Abschied vom Geliebten stattgefunden hat, aber man erfährt, dass es schon früh zwei unterschiedliche Realitäten gab, dass nicht über das Sterben gesprochen wurde.
„er war nicht ganz bei mir
so wie nur ich bei ihm war ohne zu spüren dass erschon beschäftigt mit einer zukunft die es nicht ganz
mit dem raum der hinter dem wort liegt.“
heißt es im ersten Gedicht des Zyklus.
Auch in diesem Zyklus wird nicht über den Tod geschrieben, sondern von den Räumen, die unsere Toten unser Leben lang bewohnen.
Statt sich mit der Abwesenheit des geliebten Menschen abzufinden, stellt Zeller ihrem Zyklus Christophorus, den Schutzpatron der Reisenden voran und macht sich unter seinem Schutz auf ihre eigene Reise an die Grenzen der Sprache.
In zweizeiligen Gedichten wird von einer Zweisamkeit erzählt, die nur noch in der Sprache, in der Erfindung stattfinden kann.
„die stille hat türen
gehe hindurch
dort stehen bänke
die riechen nach luft“
Zeller tut das Notwendige, indem sie folgendem Grundsatz folgt:
„die grenzen der sprache
verschieben wie stapel auf dem tisch“
Und weil alle Erinnerung Gegenwart ist, wie Novalis sagt, ist der Geliebte auch viele Jahre nach seinem Tod überall gegenwärtig, anwesend
„immer wieder tauchst du auf
in fremden städtenwer nirgends ist
ist überall.“
Es gibt auch schwache Zeilen, wie diese
„die erfindung der anwesenheit
weil du tot bist bin ich sterblich“
Das ist nicht viel mehr als eine Binsenwahrheit. Aber Eva Christina Zeller spielt weiter mit der ersten Zeile, treibt sie weiter bis zur Erkenntnis
„vielleicht geht es
gar nicht um dich“
Wenn wir die Toten als anwesend erfinden, erfinden wir möglicherweise nur uns selbst. Uns selbst als Teil derjenigen, die nur scheinbar auf der anderen Seite der Grenze stehen. Eva Christina Zeller nimmt ihre Leser mit auf die Reise und findet Bilder für das was hinter der Grenze liegen könnte.
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