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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Warum eine Mörike-Ausgabe? Darum!

Hamburg

Um es gleich vorweg zu sagen: zu diesem Buch kann man Herausgeber und Verlag nur gratulieren.

Ein Klassiker wie Mörike scheint hin und wieder in der Versenkung zu verschwinden, hat aber dann doch wieder Konjunktur. Das mag am literarischen Zeitgeist liegen, es kommt aber auch darauf an, wer sich seiner auf welche Weise annimmt.

Seit zehn Jahren gibt es die Mörike-Gesellschaft in Ludwigsburg, und sie hat seit 2005 auf ihrer Homepage jeden Monat ein Mörike-Gedicht vorgestellt, zusammen mit einem Kommentar des Germanisten Reiner Wild. Diese bis jetzt 84 Gedichte sind nun in einem schönen Hardcover-Band versammelt. Er zeigt musterhaft, wie ein respektvoller editorischer Umgang mit Texten aussehen kann.

Vorangestellt ist das Faksimile der Handschrift von „Im Frühling“ (frühe Fassung). Die Gedichte erscheinen jeweils auf der rechten Seite, links gegenüber steht der Kommentar als gedrängter Block bereit, schiebt sich aber nicht in den Vordergrund, sondern lenkt gewissermaßen den Blick jederzeit wieder auf den freier im Raum stehenden Text als Hauptsache. Reicht ein Gedicht über die Seite hinaus, so bleibt die entsprechende Gegenseite leer. Der Respekt geht so weit, dass sogar beide Seitenzahlen nur links angegeben sind, damit nichts das Druckbild stört. Ein doppeltes Inhaltsverzeichnis (kursorisch mit Quellenangabe und alphabetisch), ein konzentriertes Nachwort mit gutem Überblick sowie bibliographische Hinweise schließen den Band ab.

Wie weckt oder erneuert man das Interesse an einem als bekannt abgehakten Dichter? Indem man ihm eine gewisse Modernität zuschreibt, ihn gleichzeitig in literarischen Traditionsbezügen zeigt und, ganz wichtig, ihm bescheinigt, irgendwie quer zu stehen.

Nun ist Mörike ein Sohn seiner Zeit, man kann aus ihm keinen Trakl oder Benn machen. Aber verglichen mit den damaligen Dichter-Fixsternen Goethe und Schiller (sie waren es auch für ihn) ist er durchaus kein Epigone, sondern entwickelt eine eigene neue, sehr nuancenreiche sprachliche Sensibilität. Nicht zufällig wurde er besonders häufig vertont, etwa durch Hugo Wolf, der in kongenialer Bewunderung Mörikes Verse ungeahnt entfaltet und erweitert hat. Mörike kann geradezu impressionistisch Klang- und Farbwerte mischen wie in „Gesang zu zweien in der Nacht“. Das ist aber nur eine Seite seiner Produktion. Der Volkston in seinen Balladen, die souverän gehandhabten altklassischen Versmaße sowie eine kauzig-humorvolle Strähne gehören auch dazu. Es ist das Verdienst dieser Auswahl, anders als andere Anthologien nicht nur die berühmt gewordenen Gedichte zu bringen, sondern auch Proben seiner umfangreichen Gelegenheits-Lyrik. Die würde heute, wenn es sie denn bei Profi-Lyrikern geben sollte, schamhaft versteckt. Wie Reiner Wild im Nachwort ausführt, gehörte sie zur bürgerlichen Geselligkeitskultur des 19. Jahrhunderts, man war sich dafür nicht zu schade. Hier steht vielleicht noch die Vorstellung vom Dichterberuf als eine Art Amt im Hintergrund.  Und ob Mörike nun „Mit einem Teller wilder Kastanien“ oder „Der Liebsten zum Heiligen Christ“ einige Verse liefert – auch diese sind kunstgerecht ausgeführt und haben irgendeinen kleinen Pfiff. Es gibt keine peinliche Zeile bei Mörike, das verhindert schon sein unfehlbares musikalisches Gehör.

Was den Kommentar-Anteil betrifft, so muss man zunächst feststellen, dass eine kommentierte Auswahl ein hilfreiches Angebot für alle Interessierten ist, die nicht gleich auf die umfangreiche, aber noch nicht abgeschlossene Historisch-kritische Gesamtausgabe zugreifen oder sich das Mörike-Handbuch von Inge und Reiner Wild (Stuttgart und Weimar 2004) zulegen wollen. Die beiden gehaltvollen Reclam-Bände von Mathias Mayer (eine Einführung und eine Sammlung von Gedichtinterpretationen) gibt es ebenso wie die rororo-Bildmonographie leider nur noch antiquarisch.

Im Unterschied zu früheren Zeiten scheint heute bei allem, was präsentiert wird, ein Anspruch auf zusätzliche Informationen zu gelten. In meiner Schulzeit war man mit den Texten der alten Reclam- und Insel-Ausgaben meist alleingelassen. Trotzdem war es möglich, auch das eine oder andere nur halb verstandene Gedicht zu lieben. Ich erinnere mich an Mörikes geheimnisvolles „Um Mitternacht“, das mich durch seine Sprachmagie beeindruckte und das ich naiverweise sogar zu vertonen versuchte – ohne jede weitere Kenntnis.

Gute Kommentare werden die Freude an einem Text niemals beeinträchtigen. In diesem Buch sind sie grundsolide und informativ, signalisieren jedoch keine Allwissenheit, sondern lassen Raum zum Selberdenken.

Der Herausgeber beginnt jeweils mit Angaben zur Entstehungszeit und ersten Veröffentlichung des Gedichts, gelegentlich ergänzt durch Briefstellen. Es folgen wenn nötig Erläuterungen zum Sprachgebrauch, zu Orten und Personen, lateinischen und griechischen Zitaten und Hinweise auf verwendete überlieferte Versmaße. Da es sich zuvor um Einzeltexte gehandelt hat, kommen dabei gelegentlich Wiederholungen vor, wofür im Nachwort um Verständnis gebeten wird. Aber ein bisschen Redundanz kann ja nicht schaden. Besonderes Gewicht hat immer wieder der Befund, dass der Dichter sich auf überlieferte Motive bezieht, und dass die Art, wie er mit ihnen umgeht, durch feine Risse auch auf Brüche im Bewusstsein seiner Zeit hinweist. Darauf muss man als Leser oft erst aufmerksam gemacht werden, denn es gehört dazu die Kenntnis der Tradition und des zeitgenössischen Umfelds.

Der Herausgeber versucht, die lyrische Bewegung des Textes nachzuvollziehen und das Gehör des Lesers zu schärfen. Nur selten gerät er durch die notwendigen Zitate dabei ein wenig ins Paraphrasieren.

Freilich ist ein Kommentar immer zu Fuß unterwegs in festen Schuhen, die heißen Komplexität, lyrisches Subjekt, Rollengedicht, inszenierte Idylle, Artifizialität, Ambivalenz, poetologische Dimension, doppelte Brechung, Epiphanie, Naturvorgang, Poetisierung, Wertigkeit... Mörike hätte gestaunt über diese Begriffe. Schaut man aber dann wieder nach rechts zum Gedicht, so ist es mit Flügeln schon längst auf und davon.

Ein dünnes Fragezeichen vielleicht zur Orthographie: Im Unterschied zur älteren Hanser-Gesamtausgabe, zum Conrady und anderen Anthologien kehrt diese Ausgabe offenbar zu Mörikes Original-Schreibweise zurück mit Thal, Thüre, Heimath, Waare, Heerde, Todtengeleit und mit sämtlichen Apostroph-Verbindungen (durch's, an's, hab'), mit denen man damals viel genauer war. Dadurch bekommen die Texte eine leicht nostalgische Färbung und rücken ein Stückchen weiter in historische Distanz. Vielleicht stolpert doch ein Leser über gränzenlos oder empfindet eine vertraute Zeile als leicht verfremdet, wenn er sieht Ich denke Dieß und denke Das. Aber das ist ein wohl nie ganz zu lösendes Editions-Problem.


Eduard Mörike gezeichnet von Johann Georg Schreiner

Sehr gut hat der Verlag daran getan, das Cover nach der Bleistiftzeichnung von Johann Georg Schreiner zu gestalten, das Mörike als Zwanzigjährigen darstellt. Es ist ein wenig charakteristisches, konventionelles Jünglingsbild und eignet sich daher als Logo für Plakate, Buchdeckel und Homepage-Startseiten. Hätte man eine der späten Fotografien genommen, aus denen ein ältlich-behäbiger Mann mit grämlich herabgezogenen Mundwinkeln blickt, so wäre das zwar ehrlicher, aber auch unfair gewesen. Ohnehin ist die Seite mit der schönen Handschrift das beste Entreebillett für den Dichter.

Ach, Mörike! In welch trauriger Larve ging er mehr und mehr durch die Welt, wie wenig entsprach sie seinen federleicht sprühenden Fähigkeiten. Ungern nahm er die Ochsentour zur theologischen Ausbildung auf sich, die seine einzige Chance war, profitierte dennoch von der klassischen Ausbildung, durchlitt die karge Vikariatszeit von einem schwäbischen Kaff zum andern, war halbherziger Pfarrer und sehnte sich, ewig kränkelnd,  nach einem müßigen Leben im antiken Sinn, nach produktivem, nachdenklichem Für-sich-Sein, nach im Halbdunkel schwebender Wahrnehmung und Erinnerung, die seine Stärke war. Goethes geistigem Großbürgertum konnte er nicht angehören, Welt-Pathos und Verkünder-Ton lagen ihm fern, dennoch war er sensibel für die Strömungen der Zeit und hatte ein klares literarisches Urteil, das lyrischen Kitsch sofort aussonderte.

Zum Schluss sei ein vermutlich wenig bekanntes Gedicht zitiert, in dem der Dichter sich selbst samt der klassischen Manier in einer perfekten Alkäischen Ode auf den Arm nimmt:

An Philomele

Tonleiterähnlich steiget dein Klaggesang

Vollschwellend auf, wie wenn man Bouteillen füllt:

Er steigt und steigt im Hals der Flasche -

Sieh, und das liebliche Naß schäumt über.

O Sängerin, dir möcht' ich ein Liedchen weihn,

Voll Lieb und Sehnsucht! aber ich stocke schon;

Ach, mein unselig Gleichniß regt mir

Plötzlich den Durst und mein Gaumen lechzet.

Verzeih'! im Jägerschlößchen ist frisches Bier

Und Kegelabend heut: ich versprach es halb

Dem Oberamtsgerichtsverweser,

Auch dem Notar und dem Oberförster.

Dergleichen hätte ein Hölderlin sich wohl nicht erlaubt.

Eduard Mörike · Reiner Wild (Hg.)
Die Wolke wird mein Flügel
Wunderhorn
2012 · 225 Seiten · 19,80 Euro
ISBN:
978-3-884234013

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