Ein großes Haus mit kleinen Zimmern
Möglicherweise erlebt die Kurzprosa, die Prosaminiatur bzw. das Prosagedicht gerade eine kleine Renaissance. In den unabhängigen Literaturzeitschriften ist sie bzw. es immer öfter vertreten, wie zum Beispiel im jüngst erschienenen poet 13 des Leipziger poetenladen Verlags. Da mag es besonders gut passen, dass die erste Veröffentlichung der Leipziger Dependance des hochroth Verlags einen Band mit Prosaminiaturen darstellt. Es handelt sich dabei um das Debut von Lisa Vera Schwabe.
Der schmale Band mit dem Titel Auf den Fersen ist nicht nur in seinen Einzeltexten ein dicht komponiertes Werk. Man kann es sich als ein Haus mit vielen kleinen Zimmern vorstellen, das viele Bewohner, Erinnerungen und Situationen in sich trägt. In und um dieses Haus, das dem Leser gleich zu Beginn vorgestellt wird, gibt es eine Betontreppe mit Unkraut, Walnussbäume und Tannen, Parkett, Lexika, Erinnerungen an Bratkartoffeln, einen Specht in der Hauswand und noch vieles mehr. Es ist, das merkt man sofort, ein zutiefst literarischer Ort. Auf dem Land gelegen, auch das versteht sich von selbst. Der perfekte Schauplatz für einen Familienroman voller Geheimnisse und Abgründe. Wer jetzt jedoch Episches erwartet, eine große Erzählung über die Kindheit, das Erwachsenwerden und die Flucht ins Unbekannte, wird enttäuscht. Der Prosaminiatur, die bei Schwabe selten mehr als zehn Sätze umfasst, ist es inhärent sich um die Fugen bzw. um die Zwischenräume und somit um die Zwischentöne zu kümmern und durch sie das große Ganze darzustellen. Oder zumindest eine Vorstellung davon zu geben.
In diesen schlecht verfugten Zwischenräumen leben mitunter „kleine Tiere“ oder gar „Teufel“, wie die Autorin sie nennt. „Bekommt dem Besucher das Gebäck nicht, sorgen sie sich um ihn, streichen ihm über das Haar und reden ihm gut zu, wenn er sich über seinem Tellerchen zusammenkrümmt. Sie singen ihm ein Schlaflied und sagen: Alles wird gut. Dann spießen sie sich durch die Oberhaut.“ (Aus dem Hinterhalt) Nein, es besteht keine Gefahr, dass Lisa Vera Schwabe das Haus auf dem Land zu einer märchenhaften Idylle verklärt. Schon die Märchen der Gebrüder Grimm haben es ihr und uns verdeutlicht: Im Wald lauert immer auch das Unheimliche, vielleicht sogar das Ungeheure. Und auch wenn ein altes Haus seine Heimelichkeit verliert und zu einem tiefen, dunklen Wald wird, besteht für Schwabe nicht unbedingt Grund zur Panik. „Am unheimlichsten am Unheimlichen ist es, das es zu der Art des Schreckhaften dazugehört, die auf das Altbekannte und Längstvertraute zurückgeht. Unheimlich ist dem Heimlichen sehr nahe. Ich denke das, und dabei nehme ich eine Schicht nach der anderen von den Wänden. Mit Geduld und Spucke ziehe ich Reihen von Tapete herunter. Es ist eine mühselige Arbeit, und unter meinen Fingernägeln brennt es. Späne stecken tief und fest unterm Nagel, und ich muss aufs Herauswachsen warten.“ (Das Unheimliche)
Quelle: Fixpoetry Salon/Rolf Hannes
Lisa Vera Schwabes Erkundungen in und um das alte Haus im Wald sind detailliert, dicht und atmosphärisch ansprechend. Auf poetische Überhöhungen wird zugunsten einer prosaischen Klarheit meist verzichtet, was den Texten jedoch keinesfalls die Ebene der Mehrdeutigkeit nimmt. Man könnte zwar der Ansicht sein, dass in Schwabes Texten nichts weiter geschieht, als die literarische Analyse eines begrenzten Raumes, der sich als vielfältige Metapher auf Identitätsfragen des Einzelnen lesen lässt; dabei würde man jedoch verkennen, dass keine der Analysen dem scheinbar begrenzten Raum, also dem Haus oder dem eigenen Ich, vollends gerecht werden. Das heißt, dass Schwabes Texte auch von einer Offenheit leben, die sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formal sehr schnell begreifen lässt. So wünscht man sich bisweilen diese Miniaturen wären Ausschnitte, oder besser Einsprengsel, in Romanen, die mit wenigen Zeilen Beschreibungen von Räumen (Küche, Speisekammer, Wohnzimmer) abgeben könnten, ohne dabei die Handlung aufzuhalten, sie im Gegenteil noch zu verdichten und zu beschleunigen.
Apropos Einsprengsel: Einige der in Auf den Fersen enthaltenen Texte arbeiten mit Versatzstücken anderen Autoren. Diese sind im Buch nicht nur löblich nachgewiesen, sie werden in den jeweiligen Titeln selbstbewusst aufgeführt – mit Walter Benjamin, mit Gaston Bachelard, mit Grimms Märchen. Das ist großartig, gerade auch für ein Debut. Ruhig an den Klassikern partizipieren!
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