Stammsilben in Neopren
Es geht um die Null und die Eins. Nicht weniger. Das Rangeln der Zustände. Das Flackern und die Stille. Das Licht und die Dunkelheit. Das Gegen und das Für. Die Reibflächen der Welt. Wolfram Malte Fues’ ambitionierter vierter Gedichtband lässt sich als Expedition begreifen, als Experimentier-Anordnung, Buchstabenlabor zugleich, der Zumutung des Grundsätzlichen wie der eigentlichen Zumutung, dem Gegenwärtigen, zu begegnen.
‚Beinahe‘ und ‚bei-ferne‘, das sind bei Fues benachbarte Gegebenheiten. Das Duale, sich in seiner Zweiteiligkeit Gerierende, Vervollkommnende, erfährt, belegt durch sein Aufschließen ins Digitale seine Matrize, das Gegensatzpaar gerät so in eine Welt, die nicht das Gegenteil evoziert, sondern eine Erweiterung bietet, die Umwälzung dessen, was uns eben geschieht, im Poetischen, wo es kontrollierter sein mag, mit seinem ursprünglich gedachten Sinn noch verbunden. Die Expedition führt uns auf dem Umweg der Poesie in eine Wortwelt, die durch die Erweiterung erst möglich scheint, und eine Art neues Wort-All schimmert auf, unter dem sich, einem pyroklastischen Strom, flegräischen Sprachfeldern ähnlich, das Flüssige mit dem Festen umschlingt, ringt und eine neue Gemengelage erzeugt.
Stammsilben, in Neopren eingehüllt, fuppen LED-artig auf, um sich in ein Anderes zu fügen; es ist, folgt man dem ‚poeta doctus‘, zuweilen ein ungeheures Wirbeln um das Bedampfen der offen liegenden Sinne – sich zu fügen in einer „Nebel-Riss-Spur“, zerfallend zu „Frucht- / knotenpunkten“, „Amsel-Modulen“ in einem noch zu schaffenden „Eis- / sternbrevier“. „CD-Pilze“ wachsen „[k]opfzeilenunter“ in den Fues’schen Gedichten, über und über beschrieben von den neu-babylonischen Speichern, in denen es fiept und aufruft, aber auch erwägt und sich in ausgedehnten Fragespielen wiederfindet. Die Chancen der Digitalisierung, sie gehen, wie man sieht, zugleich mit den Möglichkeiten des Verödens einher, sie widersprechen demnach ihrer eigentlichen Intention. Die Fues’sche Leistung besteht u. a. darin, eben gegen dieses Veröden anzutreten – in einer quirligen Vielfalt an Durchführungen hält er das Wort-Material in Schwingung, die Grandezza dieser Texte besteht nicht zuletzt darin, dass kaum eine der Neologismen- und Beziehungsschleifen sich einer merkwürdigen Vertrautheit eben in der Innovation und Neuanordnung entzieht. Eigentümlich, tatsächlich: ein Großteil der Gedichte kommt einem seltsam vertraut entgegen, obwohl man die meisten dieser Entwürfe so noch nicht gelesen hat, nicht gelesen haben kann.
Wolfram Malte Fues, Jahrgang 1944, gebürtiger Norddeutscher, Literatur- und Kultur-Wissenschaftler, in Ehren zur Ruhe gekommener Professor der Basler Universität, hebt sich mit dieser Recherche in Wort- und Sinnbildung heftig ab von der nassforsch um sich selbst randomierenden Quadder-Seligkeit berufener … quotierter Worte-vor-sich-hin-Bröckler des, ach!, vom Feuilleton mit zugekniffenem Einäuglein als, Doppel-ach!, ‚florierend‘ titulierten Lyrikbetriebchens. „Sprengung von Sprach- und Erwartungsmustern“, nennt Ulrich Johannes Beil das in seinem weitsichtigen Nachsatz, durchaus auch gegen den Strich des konkreten Un-Sinns der letzten lyrischen Jahrzehnte gebürstet, und bescheinigt diesen Gedichten: „Sich auf den Weg in das buchstäbliche, das lexikalische, grammatische und rhetorische Dickicht der Fues’schen Versgebilde zu begeben, sich auf ein Gelände zu wagen, für das es keine Karte und keinen Routenplaner gibt […] ein solches Vorhaben ist, um es milde auszudrücken, ein schwieriges Vergnügen.“ Vor die Fleischtöpfe haben die Götter Eskaladierwände aus Lettern gestellt, nur zuweilen tritt Besinnung ein: „Was ihr Unterschied unsren / Atem an Atemzug lässt / sucht seine Bleibe in alt- / fallenem Laub. Während / der Wind es einweist / und mit dem Eis / um die Adern verschwistert / streift er uns Schnee- / kränze ringlings / über den Herzfinger: Wir / bleiben zusammen.“
Ein aufregendes Buch, auf das man sich einschaukeln, einlassen muss – es lässt am Horizont seiner Seiten die Möglichkeiten der Vollkommenheit blinken, ehe es uns im Mahlstrom der Zeit-Anbrandung, Erz oder Schotter, gleichviel, wieder fortreißt. Flankiert von zwölf Tuschen der Karlsruher Künstlerin Franziska Schemel, die in ihrer verhaltenen Ornamentik etwas an die legendären „Songline“-Videos von Alphaville erinnern und im Buch gewissermaßen den Part von Ruhepolen übernehmen, unternimmt „dual digital“ eine waghalsige Exkursion in die Gebiete des Ja und des Nein, des Ganzen, um das es geht, der Neuanordnung der Worte, und entblättert dabei das Faszinosum einer neuen Welt.
Fixpoetry 2012
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