Die Schrecken langsamer Träume
Vor genau zehn Jahren erschienen Harald Hartungs zwischen 1995 und 2001 entstandenen Gediche Langsamer träumen, und die SZ bezeichnete das Buch damals in einer Lobrede als „Alterslyrik“ im positivsten Sinne, ein Buch das ganz im Jetzt ist, zugleich auch die Erinnerung begeht, das Damals im Jetzt sucht, etwa wenn der Autor sich auf die Kindheit in Prag und die Kindheit im Jahr Null zurückbesinnt. Doch war das wirklich schon Alterslyrik? Oder ist Hartungs gerade bei Wallstein erschienener Band „Der Tag vor dem Abend“ Alterslyrik, wie zumindest der Titel suggeriert?
Tatsächlich umfasst „Langsamer träumen“ auf seine ganz eigene Hartung-typische Art das ganze Leben von den jüngsten Jahren und den prägenden Erfahrungen unter Nazis und Entbehrung bis zum Dichter, der er heute ist, und der es noch immer schafft, Verse von großer formaler Eleganz und großer inhaltlicher Dichte zu schaffen, die noch besser wären, wenn man ihnen nicht hier und da den Literaturwissenschaftler anmerken würde, der gerne ein etwas altkluges Namedropping betreibt. Auch das trübt die Lesefreude an diesem Buch aber nicht, dafür sind die Texte zu versiert, zu treffsicher, Hartung gelingt etwas, das nur wenige Lyriker schaffen: Er verflechtet reale (Erinnerungs)Bilder mit kraftvollen und beeindruckenden Metaphern und lässt in fast jeder zweiten oder dritten Strophe etwas aufblitzen, das man so noch nicht gelesen zu haben glaubt. „Wir sind die Dichter der kleinen Verschiebungen“, hatte Jandl mal gesagt. Auf Hartung trifft das zu. Er nimmt oft klassische Formen, arbeitet bewusst mit Reim und Rhythmus, belebt die altbekannten Schemata aber vor allem sprachlich immer wieder neu. Viele seiner Gedichte haben kein Wort zu viel, keines zu wenig, ein Kunststück, das den meisten Lyrikern kaum zweimal im Leben gelingt.
Das lange Gedicht
Die jähe Kühle
inmitten der Hadesgestalten –
das könnte aus einem Gedicht sein
Blau käme mehrfach drin vor
einmal auch gülden
wüßte man nur was das meint
Ja, wüsste man es nur … aber muss man es wissen? Muss man jede noch so kleine Anspielung, jedes versteckte Zitat, das der Autor aus diesem oder jenem Grund verbaut, verstehen? Nein, ganz und gar nicht. Dabei sind Hartungs Gedichte in aller Regel sehr verständlich, er verrätselt eher selten. Aber wichtig ist doch unterm Strich, ob sich der Leser von den Gedichten angesprochen fühlt, ob sie eine Saite in ihm anschlagen, egal welche. In „Langsamer träumen“ sind das nur im ersten Kapitel die Gräuel des Krieges und des Aufwachsens unter einem Terrorregime, später sind es sanfte Momentaufnahmen, in denen Schnee fällt „bis alle Zeilen gefüllt sind / und das Papier wieder weiß“.
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