Kreisen um zerfallende Zentren
Man braucht einige Zeit, um sich in die lyrische Sprechweise und Tonlage Levin Westermanns einzufinden. Der Band unbekannt verzogen, der nun im Wiesbadener Verlag luxbooks erschienen ist, stellt zudem die Gedichte an den Anfang, deren Vokabular und Assoziationsspiel dem Leser ein Rätsel aufgeben, das sich auch im Fortgang des Buches nicht lösen lässt, nicht mit Anhaltspunkten umgibt. Gewiss kann es nicht um eine Auflösung ohne Rest gehen – und so beginnt man sich an Wiederkehrendes zu halten. Selbst der Begriff Leitmetaphern erscheint zunächst zu forsch; man hält sich an Leitwörter, wiederkehrende Wortverbindungen. In dieser Weise auf Abstand gehalten, findet man sich auch zuletzt nicht ganz ein, bleibt draußen. Die Atmosphäre sogenannter „dunkler“ Texte speist sich nicht zuletzt aus der Irritation und Ratlosigkeit des Lesers; diese performative Strategie, die einen Kommentar zur Sprache abgibt, herrscht nun auch schon seit fast hundert Jahren. Ich frage mich, mit welcher Farbe man sich das Gesicht überziehen müsste, um dem toten Fuchs die Gedichte zu erklären. Beuysianisches Gold wird es wohl nicht mehr sein dürfen.
Westermann, 1980 im nordrhein-westfälischen Meerbusch geboren, studiert seit 2009 am Schweizer Literaturinstitut in Biel. Die Stadt hat ihn vor kurzem mit einem Werkbeitrag ausgezeichnet. In Deutschland ist er hingegen in den Fokus der lyrischen Szene bzw. Szenerie getreten, als er 2010 den Lyrikpreis beim 18. Open Mike gewann. In den Gedichten des Bandes unbekannt verzogen bröckelt die Welt in das Schweigen hinein. Der Ton ist düster, grimmige Isolation, eine Eiseskälte. Wir folgen den Brocken und Stücken der Sprache (folgerichtig alles in Kleinschreibung nivelliert), im freien Fall einer stark privatisierten Sprache. Die titellosen Gedichte begeben sich häufig in abgedichtete Assoziationsketten, die immer wieder die Kulinarik des einzelnen Wortes aufblitzen lassen: undertow / tiefensog jade- / gestirn blei- / westen-beige f- / dur alpha ten / fragment tao- / mangokranz- / glutorange / begradigt d-dur / alpha lavasaft.
Scheinbar unkontrolliert eingegrabene Eindrücke sprechen sich hier aus, ein Prasseln von Außenwelt, das nur als Spur der Befindlichkeit präsentiert wird, mit poetologischen Anklängen wie von Ferne: dieses echo, peripher im augenwinkel, / von der zeit belichtetes papier aus netzhaut / und tapete. Was vom Draußen begegnet, erscheint fast wahllos, gewalttätig vor den nervösen, schnellen Sakkaden, latent panisch. Das kürzeste, knisternde Aufflackern akzentuiert nicht nur das Vergänglichkeitsdenken dieses Ichs, sondern filtert die Eindrücke in einer Weise, dass die Unglaubwürdigkeit ihrer Einheit und schon gleich ihrer sprachlichen Repräsentation zum Vorschein kommen. Der Traurigkeit des Tons entspricht die Skepsis des Blicks, so wird eingesteckt und ausgeteilt, in bitterer Tönung; und man denkt kurz daran, dass im Italienischen eine Zeit lang „tristezza“ zugleich Traurigkeit und Bösartigkeit bedeuten konnte.
Die Beschleunigung des Blicks und das Schwinden eines irgend metaphysischen Überbaus, an den sich Referenzen klammern könnten, ziehen sich in einer Prägung zusammen, die im Band ebenfalls mehrmals begegnet. Aus dem Stundebuch, das als Gebetsbuch nicht nur die beschworene Standleitung zum Göttlichen in seine Seiten fasste, sondern auch eine Lebensgemeinschaft von Mensch und Buch verbürgte, ist das fahrige, im Traum haltlose sekundenbuch geworden. Es enthält Einträge von Gefährdung: eintrag ins sekundenbuch: / ohnmacht (wie wenn alles plötzlich stürzt / nach allen seiten). Einprasseln der Eindrücke und Auseinanderfallen ihrer Fluchtpunkte füllen die große Metapher von der Lesbarkeit der Welt. Entsprechend erscheinen die äußere Welt, die anderen Menschen, die Gesellschaft vor allem im Zeichen von Menge und Masse, als eine Zumutung für das Ich, der gegenüber sich Ablösung und Misstrauen aufbauen. das, was dir unfassbar ist, / ist diese jagd nach einer handvoll glück. // jene ungeduld der nerven, / die verhindert, dass man atmet, die verbietet, / dass man ruht. // der filter vor den augen, / dass alles ist ein bleichen und ein welken dir / im sinn - .
Aber es herrscht nicht nur viel Negativität in diesem Band (meine träume sind collagen aus vernarbtem), sondern auch viel Stille. Es bleibt undeutlich, ob in diesem starken Wort und seinen nachbarschaftliche verbundenen Worten (hier v.a. Schweigen und verschiedene Umschreibungen der Windstille) negative oder positive Konnotationen zusammengezogen sind; aber eine Faszination für das lyrische Ich geht von der Stille allemal aus. Zumindest als Medium der Selbstgegenwart: Denn bei aller Negativität des Ausdrucks, bleibt die Lust am Kreisen um sich selbst in allen diesen Texten unverkennbar, nicht nur als Spur, sondern als Gangart einer Triebfeder. Und wie es oft begegnet bei stark verinnerlichten, assoziativ-erratischen Texten, sind die ersten Verse in vielen Gedichten die deutlich stärksten.
Der Abschottung ins Rätsel gegenüber, oder besser: zur Seite steht ein zärtlich-panisches Festhalten an einem Rest von Realien. Der Orientierung auf Mitteilung und Semantik zwar eitert von den rändern her, es ist schwer zu unterscheiden und zu fassen, wo die Ränder und Rahmen der Bilder sind, wo mehr als Selbstbespiegelung, aber man bekommt doch auch eine Ahnung, dass der technische Begriff der derrida’schen Dissemination einst den poetischen Namen des novalis’schen Blütenstaubs trug. Bei Westermann hat so ein Lied ein spezifisches gewicht und oft lassen sich im Band beschwörende Rückversicherungen hören, wie beispielsweise den wind gibt es / den wind und das schilf gibt es, / den weg, die spielenden kinder. [...]dich gibt es / und mich gibt es. den wind, das schilf, die worte / im sinn.oder und immer wieder / zähltest du die sterne, zur kontrolle, und immer wieder / zähltest du dich selbst, aus angst. Diese Gesten des Festhaltens erhält den Namen der Sehnsucht; und auf sie bezieht sich auch einer der wenigen sentenzhaften Verse des Bandes: entfernung und distanz / sind die währung aller sehnsucht.
Diese Gegenwelt erscheint als Wald, Titelwort eines der neun Kapitel des Bandes. Der Wald speichert die Vergangenheit auf, er ist der Ort der Wiederholung. Nicht nur, weil in seiner Beschreibung der Stil repetitiv wird, die schnellen, sich drehenden Sakkaden beruhigt werden durch die Gleichförmigkeit ihrer Umwelt, sondern auch, weil hier die Dichte der Anspielungen und Zitate sprunghaft zunimmt. Da erscheinen T.S. Eliot, Goethe, mehrmals, Fetzen von Märchen und Volksliedern. Die Wiederholung greift hinein ins Material und der Wald wird so auch zu einem Ort der Literatur selbst, Zusammenhalt und Selbstidentität können hier fast schon positiv erlebt werden. (Dass dadurch die schöne Gattung der Silva schon wiederbelebt wäre, lässt sich leider nicht so recht sagen.)
Es mag nach dem bisher Gesagten in gewisser Weise erstaunen, aber zum Spannendsten in Westermanns Band gehört der Entwurf des Gegenübers. Nicht nur ist der Ansprechpartner des lyrischen Ich immer gegenwärtig, die längsten Strecken über ausdrücklich als lyrisches Du (implizit schaltet und waltet es ja in jeder Dichtung). Dieses in der zeitgenössischen Lyrik häufige Stilmittel, jenes nach einer gewissen Dauer recht penetrante „du gehst, du schaust, du stehst, du tust“, wird hier zum Glück erweitert. Das Du ist nicht nur die Marionette und Repoussoirfigur des Ich, sondern es erhält eine Stimme: oft wird es zitiert, werden Worte plötzlich zu seinen Sätzen: sagst du zieht sich wie ein Refrain durch den ganzen Band. Zwar unterscheiden sich die beiden Stimmen nicht voneinander, aber die Geste der Öffnung ist da, die assoziative, selbstbespiegelnde Privatsprache öffnet sich auf den kleinen Kern einer Zwillingssprache. Man spürt das Ringen um einen Adressaten, der auch das lyrische Ich in seinem windstillen, verriegelten white cube zu einem Adressaten der Welt machen kann: sagst du. Das dieses Gegenüber, dieser Adressat aber eine fragile Imagination bleibt, das lehren nicht nur die Gleichmäßigkeit des Stils und der Sprecherrolle oder die monologische Abdichtung der entworfenen Welt, das leuchtet düster vom Titel des Bandes herab: unbekannt verzogen.
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