Essay und Form
Zäumen wir das Pferd also von hinten auf. Was immer das heißt, ein Pferd von hinten aufzäumen. Ein wenig wie mit dieser idiomatischen Wendung geht es mir mit den Essays von Volker Demuth, die in dem Büchlein Zur Sprache kommen oder Schreiben.doc, erschienen im renommierten Wiener Passagen Verlag, zusammengefasst sind. Aber natürlich hat ein Text, der sich in seiner sprachlichen Gestalt dem schnellen und unmittelbaren Verstehen verweigert, den Vorteil, dass er mich zum Denken zwingt. Man sollte das auch als sportliche Übung betrachten. Eine Übung, die Freude macht, wenn man merkt, dass einem eine Figur plötzlich gelingt.
Es handelt sich hier um kulturgeschichtliche, ästhetische und poetologische Analysen eines gegenwärtigen, also zeitgenössischen Schreibprozesses. Demuths eigenes Schreiben wird dabei zum Exempel. Das klingt ein wenig vermessen, ist es aber nicht, denn der Autor begründet letztlich, warum es im Grunde gar nicht anders geht. Nach der Einebnung der Gipfel im Zuge der Postmoderne ist ein kaum überschaubares Feld entstanden, ein Feld, das aber immer noch Dichtung heißt und aus gleichbedeutenden Punkten besteht. Eine Fläche, die in jedem Punkt ein Anfang ist.
Der Essay scheint mir in diesem Zusammenhang die Form schlechthin, nicht nur um Probleme der Lyrik zu behandeln. Seine Sprunghaftigkeit kommt der Gegenwart mit ihren zerflossenen Gewissheiten entgegen und sein Wechsel aus narrativen und analytischen Passagen, seine Weigerung sich zwischen Wissenschaft und Narration zu entscheiden, führt letztlich zu einer spezifischen Erkenntnis, die die Wahrheit nach den großen Erzählungen der Religion und der Philosophie ersetzt.
Doch die Tatsache, dass der Impuls, damals wie heute, nicht nachgelassen hat, die Suchtrupps der Sätze nach Daseinsfragmenten und Anwesenheitsbrocken auszuschicken, mag immerhin als Zeugnis für jenes bleibende Gespür gelten, dass wenn Literatur etwas zu sein vermag über das Kristallgitter hinaus, das sich am Staubpartikel namens Ich formt, dann muss sie eine Schule der Zeit sein. Ein Ort, an dem sich in Erfahrung bringen lässt, wie Zeit durch unsere Existenz geht, ...
Diesen komplexen Satz schreibt Demuth im Prolog des BuchesSchreiben.doc. und mahnt damit zweierlei an. Einerseits beansprucht er Zeitgenossenschaft und andererseits begründet er damit die Notwendigkeit zur Selbstreflexion. Wahrscheinlich, um das hier kurz anzumerken, liegt in diesem Punkt die Stärke der Lyrik von heute, aber vielleicht auch die Stärke der Lyrik überhaupt. Denn seit dem Barock schafft sie neben Gedichten auch Formen der Selbstreflexion, Poetiken und erkenntnistheoretische Texte, zumindest die deutsche Prosa bleibt hinter diesem Drang nach Selbsterkundung weit zurück.
Volker Demuth ist 1961 geboren, studierte Philosophie Literaturwissenschaft und Geschichte und war von 2000 bis 2004 Professor für Medientheorie. Heute lebt er als freier Schriftsteller in einem Dorf auf der Schwäbischen Alb und in Berlin.
Das Fernsehen nimmt im Alltag von heute keinen geringen Raum ein. Volker Demuth gehört einer Generation an, die gewissermaßen mit den Fernsehgeräten in den Wohnzimmern ihrer Eltern unvermittelt auftauchte. Da standen sie nun, die TV-Kästen und die Wiegen und sollten das Leben komplett umkrempeln. Dieser Umstand bildet das Futter für den Essay Frühe Bilder, der sich eingehend mit dieser Umwälzung auseinandersetzt, die das Fernsehen für die Erlebniswelt bedeutete. Der Gedanke daran ist von einer eigentümlichen Banalität. Fast erschreckend, denn Demuth hat recht, wenn er durchklingen lässt, dass die Dramatik dieses Prozesses wenig in das Bewusstsein gedrungen ist. Es gibt kaum einen Speicher gesellschaftlicher Erinnerung an die Zeit vor dem TV, jenseits der Kunst und der Literatur. Der Umschwung war radikal, ist aber zumindest von der deutschen Theorie nicht in dem Maße reflektiert worden.
Interessant ist aber auch die politische Bedingtheit der Bildwirkung des Fernsehens. Sowohl bei Demuth, als auch bei vielen meiner Freunde und Bekannten seiner und der folgenden Generation, die im Westen aufwuchsen, spielten die Bilder des Münchner Olympiaattentates eine enorme Rolle als prägende und verstörende Momente gesellschaftlicher Bewusstwerdung. Ich, der ich im Osten sozialisiert wurde, habe sie erst dreißig Jahre später als derart dramatisch erfahren. Für mich aber hatten damals die Fernsehbilder vom Militärputsch in Chile eine ähnlich politisierende Wirkung.
Dort, in diesen erratischen Formationen, und innerhalb eines einschneidenden Kreationsgeschehens, konnte Wirklichkeit sich nicht anders ergeben, denn als eine unvermutet auftauchende Topografie, als das System jener Orte, die ehedem infantil begannen, und zu denen man auf eine eigentümliche Weise zurückkehrte, wenn sich der Formvorgang viel später im Raum der eigenen Sprache nochmals abzeichnete.
Dieser Satz entstammt dem letzten Essay des Bandes Zur Sprache kommen oder Die Form des Gedichts der sich, trotz aller Kürze noch einmal dem Formproblem in der Dichtung zuwendet.
Er hebt mit einer recht globalen Standortbestimmung an, die mich an Heideggers Aufsatz über denDichter in dürftiger Zeit erinnert. Allerdings denke ich manchmal, dass ein jeder Dichter sich immer in dürftiger Zeit wähnt, wenn er über sich so nachdenkt und daraus seine Kraft zieht und auch die Berechtigung seiner Existenz ableitet. Zum Glück stellt sich dann aber schnell die Frage der Form.
Zentral in Demuths Text scheint mir der Gedanke, dass sich die Frage ob Sonett oder freier Vers auf diese Art gar nicht mehr stellt, sondern zum Beispiel ein jedes Sonett sich selbst als Form noch einmal erfinden muss. Dieser Gedanke ist mir sehr vertraut, weil ich als Lehrbeauftragter in einem Schreibseminar zuweilen die klappernden Produkte erlebte, die zustande kommen, wenn man es da bei belässt, sich an die tradierten Rhythmus- und Reimschemata zu halten. Interessant ist auf der anderen Seite auch, in diesem Essay wieder auf das Sonett zu stoßen, als ob es andere tradierte Formen nicht oder kaum gäbe, als schwebte das Sonett wie der Heilige Geist über allen Formen der Lyrik, wie ein Schatten oder es lauert als Untotes in jeder Ritze. Nun gut, vielleicht sehe ich hier aber auch einfach Gespenster. Wie dem auch sei, Demuth wirft hier die sich immer wieder reproduzierende Frage nach der Form auf neue Weise auf und das Mäandernde seiner Sätze verhindert eine vorschnelle Antwort. Als wollte das unterstrichen werden, schildert der Autor in Topografie des Lesens, dass ein Gedicht, das 20 Jahre braucht, um zustande zu kommen, noch eine Überraschung sein kann.
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