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Kritik

Der Rest vom Janzen

Hamburg

Das Glück ist zum Mitnehmen gedacht. Und die inneren Werte liegen im Nacktmull verborgen. Waffen und Weichspüler? Braucht kein Mensch! Und die Schönheit hat die ganze Zeit auf einen Handkuss gewartet … Kerstin Hensels Gedichtband Das gefallene Fest ist – Titel hin oder her – vor allem eines: eine fulminante Feierei. Gefeiert werden: Schikanen, Absurditäten, ein halbes Jahrhundert und das große Trotzdem am Schluss. Und immer wieder fällt dabei das Lot in die Bodenlosigkeit einer „schalksköpfigen Vernunft“: „Schwarz fährt die Hoffnung und weiß nicht / Wo steigt sie aus“. Das gibt den Auftakt und dieser Geist ist immer noch anwesend und spürbar, wenn es schließlich im vorletzten Gedicht Letzte Hoffnung heißt: „Ich hoff mir geht es gut ich werd nicht leiden / Und sollt ich leiden, bring ich selbst mir Ruh“.

Man kann Hensels Gedichte genau so verstehen: als den heroisch-heiteren Versuch, sich selbst Ruhe zu bringen. Eine baroneske Entlastung von den Zumutungen der Jahre: „Ich stehe vor dem Spiegel und sage: ‚Du bist nicht verkehrt, aber du lügst wie poliert’“. Man kann aber auch das Trotzdem, das sich dahinter verbirgt, erkennen: ernst und gravitätisch. Ein wacher Geist, der aus dem endlosen Murmeln und Mauscheln, in aller Bescheidenheit, aber umso klarer und deutlicher die einzelnen Momente, Atemzüge, Lichtreflexionen hervortreten lässt: „Nie wieder gab es für mich diesen Schlag / Der See der Seelen See / Ich weiß wo du dein Grab gekauft hast / In der sandigen Ferne“.

Hier wird nichts von Ironie vereinnahmt. Die Pointe fahrengelassen. Keine Bedeutung suggeriert. Sollte es eine geben, dann befindet sie sich im „Schlagen“ und der Schlag sucht in der „sandigen Ferne“ seinen Kontra- und Zielpunkt, mit letzter Konsequenz. Aber das Misstrauen bleibt auch hier gegenwärtig, die Vorsicht gegenüber sich selbst. „Ich tat alles für keinen Applaus / Wo man mich einließ / warf ich mich raus“, lässt sich dazu das Gedicht Ich war nicht obenauf  parallel lesen. Oder wenn es an anderer Stelle sinnfälliger Weise, ganz schnörkellos heißt: „Verschlüsselt bleibt dein Text wie alles offen“. Etwas vom Unausgemachten bleibt unausgemacht. Das ganz Rohe vielleicht. Die „Schlacke Erinnerung“. Vielleicht aber auch nur der „Rest vom Janzen“.

Damit der Spagat gelingen kann, folgen auf die Gedichte sogenannte „Denkzettel“ in zwangloser, wenn auch nicht beliebiger Reihenfolge. Jeder Denkzettel ist eine wohlkalkulierte Relaisstation. Einige wirken durchkomponiert. Andere erscheinen unbekümmert, wie frisch aus dem Sudelbuch. Alle beherbergen sie die unerschöpfliche Faszination, sich vom Vertrauten überraschen zu lassen, den Metamorphosen des Alltags beizuwohnen: „In der S-Bahn eine junge Frau mit Haaren, die als riesiger Mähnenbusch bis an die Waggondecke reichten. Das winzig scheinende Gesicht: eine implodierte Schönheit. Als die Frau ausstieg, hörte ich sie brüllen.“

Viele Denkzettel haben allerdings – im Gegensatz zu den Gedichten – eine relativ kurze Halbwertszeit. Das mag vor allem an der unverblümten Freizügigkeit liegen, mit der Hensel immer wieder zum Kalauer greift. Eine Marotte, die so manchen Denkzettel zäh werden lässt: „Das Ur-Laub: von welchem Busch oder Bau mag es wohl stammen?“ Da hilft es auch kaum, wenn an anderer Stelle versucht wird, dieser unliebsamen Veranlagung ironisch zuvorzukommen: „Mein Zwang zum Kalauern ist umso schlimmer, je schlimmer es ist. Auf der Gefäßchirurgie des Klinikums Wilmersdorf sah ich drei fette Frauen um das Bett der sterbenden Mutter: drei Venen von Wilmersdorf.“

Glücklicherweise bleiben die Gedichte von derartigen Wortspielereien verschont. Jan Kuhlbrodt schreibt in seinem Nachwort, der Vers, das Künstlichste, das die Sprache kennt, sei Kerstin Hensel eingeboren. Eine natürliche Weise des Artikulierens. Dem bleibt nur hinzuzufügen, dass sich ihre Sprache deswegen noch nicht im Vers erschöpft. Sie versucht ihm vielmehr immer schon voraus zu sein. Schwarz und romantisch, um einen Atemzug.

Kurzer Besuch

Jetzt kommt noch
Herr Nachtmar und fährt mir
Mit seiner grauen Hand über den Kopf
Ich rüttle mich schüttle mich und ich
Empfehle mich.

 

Kerstin Hensel · Jayne-Ann Igel (Hg.) · Jan Kuhlbrodt (Hg.) · Ralph Lindner (Hg.)
Das gefallene Fest
poetenladen
2012 · 96 Seiten · 16,80 Euro
ISBN:
978-3-940691415

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