Denn die im Dunkeln sieht man nicht
Die Novellen, die Martin A. Völker für den schmalen Band „Einsamkeitswandern“ ausgewählt hat, um Gutti Alsen, einst eine bedeutende Größe der expressionistischen Literatur, vor dem restlosen Vergessen zu bewahren, stammen aus Bänden, die 1922 bzw. 1931 erschienen sind.
Gutti, mit bürgerlichem Namen, Gustave, Alsen wurde 1869 in Königsberg geboren und starb dort 1929. Ab 1919 erschienen ihre Geschichten in expressionistischen Zeitschriften oder in Buchform. Während anderen, dem Expressionismus zugerechnete Autoren, auch heute noch gelesen werden, geriet Alsen in Vergessenheit.
Auf die adjektivgesättigten Geschichten Alsens muss man sich einlassen. Da „behängen Zimmer sich mit Dämmerung“, man „durchfliegt die weiten Tore der Vergangenheit.“ Keine Ironie durchbricht das Pathos.
„Ihre Art zu essen, die Tränke zu schlürfen, hatte etwas von Andacht“, heißt es in der Erzählung „Der fliegende Koffer“, und ein wenig beschreibt Alsen damit ihre Art zu formulieren, Situationen und Menschen zu beobachten.
Die fünf Geschichten, die Völker für eine Wiederentdeckung Alsens ausgewählt hat, sind geschickt angeordnet.
In der Eingangsgeschichte „Augen im Dunkel“ wird die traurige Atmosphäre der industrialisierten Großstadt beschrieben, in der allein die wachsamen, treuen Augen eines Blindenhundes Trost bieten.
„Der fliegende Koffer“ ist das Vehikel für eine Reise in die Vergangenheit.
In „Der Jude von Nidden“ dient ein unscheinbares Bild des wenig prominenten Malers Ernst Bischoff aus Culm als Ausgangspunkt für eine Geschichte, die schöner, reicher und tiefer ist, als die der Kunstwerke, die es einrahmen. Spätestens in dieser Geschichte zeigt sich Alsens Eigenart, ihre Neugierde auf das Unpassende, Farblose, Unauffällige, offensichtlich Deplatzierte. Auch in dieser Geschichte ist es der Einzelne, der jüdische Händler, der einsam wandert, seinen Weg finden muss und mit verzweifeltem Stolz Jahr um Jahr der Not gehorchend alle Kräfte aufbringt, um für andere zu sorgen.
Während die Glasscheibe aus der gleichnamigen vierten Geschichte, anfangs Schutz vor realer Bedrohung bietet, verschließt sie später die Tür vor der Freundin und ist schließlich das Medium durch das dem jungen Mädchen, das nun vollends zur Künstlerin gereift ist, alles was außerhalb liegt durchlässig erscheint, während es ihr selbst erlaubt, den romantischen Mädchentraum zu bewahren.
„Das Leben schritt rasch voran. Es nötigte sie in immer kürzeren Abständen hinter die gläserne Scheibe. Der durchsichtige Schutzwall wurde ihr liebste Gewohnheit.“
„Dort wuchs eine seltene Welt empor, von falben Traurigkeiten, von unerhörter Inbrunst, von taumelnden Freuden und namenlosen Schmerzen.“
Hier findet die Einsamkeit eine neue Ausprägung, indem sie Mittel und Wege findet, innerhalb der Gesellschaft gelebt zu werden. War der jüdische Händler noch allein mit sich und der Natur während seiner Einsamkeitswanderungen, lebt die junge Frau hinter ihrer selbst erschaffenen Scheibe, einsam inmitten der anderen.
Die höchste Form der Einsamkeit und Verzweiflung aber beschreibt Gutti Alsen in der letzten von Völker ausgewählten Geschichte: „O Wirklichkeit“, in der der Albtraum einer bitterarmen einsamen Mutter schließlich mit roher Gewalt in ihren Alltag hereinbricht.
Gutti Alsen hat große Geschichten über diejenigen geschrieben, die die Gesellschaft schon immer übersehen hat. Vielleicht ist sie deshalb so schnell vergessen worden.
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